BT-Kolumne
An jedem verdammten Samstag

Simon Balissat schreibt diese Woche in seiner Kolumne über die Kunst, dem Smalltalk aus dem Weg zu gehen. Dabei legt er besonderes Augenmerkt auf den Moment, wenn die Flucht vor dem Gespräch scheitert.

Simon Balissat
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AZ

Der Schädel brummt. Warum hat der Wecker nicht geklingelt? Schon nach 12 und das am Samstag! Und wo war gestern bloss die letzte Station? «Kiste»? Ja, ich glaube, ich habe im Raucherraum noch eine alte Bekanntschaft getroffen. Robert, aus der Bez. Schon witzig, wie sich Väter komplett besaufen, wenn sie einmal im Monat Freilauf haben. Er wohne jetzt im Vorort. Sie hätten ein nettes Haus in Rohrdorf. Eigentum. Mit einer Garage für zwei Autos ... Also Prost! Auf dein Haus!

Und jetzt erwache ich hier mit üblem Kater. Ich brauche dringend einen Kaffee . . . Das fast unerträglich hohe Kreischen meiner Kaffeemühle lässt nichts Gutes erahnen. Sie scheint zu schreien: FÜTTER MICH! Der Bohnenbehälter ist leer . . . Es ist passiert. Ich MUSS jetzt raus und Kaffee kaufen gehen. Nur bloss niemandem begegnen. In meinem Zustand will mir wohl auch niemand begegnen, nur wissen das die meisten erst, wenn sie mich schon mit «Hey wie gahts?» begrüsst und in mein fahles Gesicht geblickt haben.

Zum Glück bin ich ein Meister darin, mich unauffällig durch die Innenstadt zu bewegen. Das braucht neben minutiöser Planung auch eine makellose Ausführung. Es beginnt bei der Wahl des Weges: Statt durch die Bezirksschule Burghalde zu gehen, laufe ich über den Schlossberg zur Bushaltestelle «Lindeli» und dann die Treppe zum Gstühl hinunter.

So vermeide ich die Altstadt und habe schon so was wie Frühsport gemacht. Nun bei der Sterk-Unterführung dem Perron Gleis 4/5 entlang. Samstägliche Zürich-, Bern- und Basel-Ausflügler lasse ich also rechts liegen. Das ist bisher noch einfach, jetzt kommt aber die heisse Phase: Die grosse Bahnhofunterführung. Ganz im Gegensatz zu Stella Pallinos Bar ist man hier tatsächlich unvermeidbar. Jetzt kommt Stufe 2: meine Tarnung. Kapuze rauf, Blick leicht nach unten und zielstrebiges Laufen direkt in den Coop.

Schon am Eingang muss ich mir einen Überblick verschaffen – hier gibt es wenige Fluchtwege. Sehe ich bekannte Gesichter? Ist Smalltalk unausweichlich? Jede Regalreihe will kontrolliert werden, unauffällig kurz links blicken und im Zweifelsfall die nächste Regalreihe anpeilen.

Ich rechne 10 Minuten Mehraufwand ein und weiche gekonnt aus: Einem Freund mit seiner neuen Freundin und dann einer frischgebackenen Familie, die erstmals ihr Neugeborenes in der Stadt zur Schau stellt. Schnell am Self Checkout die Packung Kaffee bezahlt und schon bereite ich mich mental auf den Weg nach Hause vor. Nur noch kurz Zigaretten holen und .... «Hey ciao! Wie hesch? Au am poschte? Ha di vorher scho churz zwüsche de Gstell gseh!» Ich zucke zusammen. Ein paar Sekunden zwischen Kasse und Kiosk nicht aufgepasst und schon ist es passiert. Cindy aus der Primarschule. Mission gescheitert . . .

Und nur genau in dieser Situation wünschte ich mir, ich hätte auch ein nettes Haus in Rohrdorf mit einer Garage für zwei Autos. Dann könnte ich nämlich in so ein Mega-Detailhandelspalast mit Riesenparkplatz in der Agglo fahren und dort komplett anonym Kaffee kaufen.