Wettingen
Anwohner stellt Anfrage zur Verschiebung des Morgengeläuts – und erhält prompt Drohbriefe

Ein Wettinger wollte das Morgengeläut der Sulperg-Kapelle verschieben und stellte einen Antrag an die Kirchgemeinde. Doch das provozierte heftige Reaktionen.

Pirmin Kramer
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Die Glocken der Marienkapelle läuten jeden Morgen um 6 Uhr. Zu früh, findet ein Anwohner.

Die Glocken der Marienkapelle läuten jeden Morgen um 6 Uhr. Zu früh, findet ein Anwohner.

Sandra Ardizzone

Das Bundesgericht hat Mitte Woche einen wegweisenden Entscheid gefällt: Die Glocken der evangelisch-reformierten Kirche Wädenswil ZH dürfen nachts weiterhin jede Viertelstunde läuten. Ein Ehepaar hatte sich vom Lärm gestört gefühlt und eine Klage eingereicht. Das Geläut hindere die Frau, die an einer seltenen Krankheit leide, am Einschlafen beziehungsweise werde sie dadurch aus dem Schlaf gerissen.

Das Verwaltungsgericht hatte entschieden, dass die Glocken zwischen 22 und 7 Uhr nur noch zur vollen Stunde läuten dürfen. Das Bundesgericht hiess nun aber eine Beschwerde der Kirchgemeinde gut; alles bleibt beim Alten.

Bis auf das Frühgeläut: Die Kirchenpflege hatte sich vor einigen Monaten bereit erklärt, dieses von 6 Uhr auf 7 Uhr zu verschieben. Das Ehepaar hatte mit der Klage den Zorn vieler Dorfbewohner auf sich gezogen und erhielt anonyme Drohbriefe: «Ich habe ganz vergessen, Ihnen eine Schlaftablette zu übermitteln. Wenn Sie zu viel nehmen, haben wir Ruhe vor Ihnen», hiess es in einem der Schreiben.

«Der liebe Gott hätte nichts dagegen»

Ein ähnlicher Fall spielte sich dieses Jahr in Wettingen ab. Jeden Morgen um 6 Uhr ertönen die Glocken der Marienkapelle auf dem Sulperg. Bruno Hunziker, der in Wettingen in der Nähe der Kapelle wohnt, wird immer wieder durch das Geläut geweckt. «Jeden Morgen frage ich mich, wozu das eigentlich gut ist.» Er stellte bei der römisch-katholischen Kirchgemeinde einen Antrag: Ob es möglich wäre, die ersten morgendlichen Glockenschläge zeitlich zu verschieben, zum Beispiel auf 9 Uhr. «Der liebe Gott hätte sicher nichts dagegen», so Hunziker. Er stellte den Antrag am 6. August – und hat bis heute keine schriftliche Antwort erhalten.

Stattdessen landeten einige anonyme Briefe in seinem Briefkasten. «Ich musste eine Art Shitstorm über mich ergehen lassen», sagt Hunziker. Einige Reaktionen waren verhältnismässig freundlich: «Es ist schlimm, kein Güggel darf mehr krähen. Hören Sie auf mit diesem sinnlosen Zeug!» Hunziker erhielt aber auch eine schriftliche Morddrohung.

«Ich habe damit gerechnet, dass es kritische Reaktionen geben könnte und die Wogen hochgehen würden. Aber dass ich es sogar mit Morddrohungen zu tun habe, ist schon erstaunlich. Die Kirche predigt für Nächstenliebe und Toleranz. Geht es um das Glockengeläut, sind andere Meinungen aber offenbar mehr als unerwünscht.»

Hunziker, der Mitglied bei den Skeptikern Schweiz ist, dem Verein für kritisches Denken, sagt: «Es ist erstaunlich: Wenn es um Fluglärm geht – der notabene aus sinnvollem Grund entsteht, weil Leute transportiert werden –, wird anständig diskutiert. Geht es um das sinnlose Gebimmel der Kirchenglocken, gehen hingegen die Emotionen hoch.»

Er setze sich für eine Gesellschaft ein, die auf ideologische, religiöse oder esoterische Scheuklappen verzichten könne. «Religion ist Privatsache, und es geht mich nichts an, ob Menschen beten oder an Gott glauben oder nicht. Aber die Freiheit hört auf, wo andere Menschen gestört werden, das sei beim Glockengebimmel der Fall.

Die Wettinger Kirchgemeinde dürfte den Bundesgerichtsentscheid betreffend der Wädenswiler Kirche mit Genugtuung zur Kenntnis nehmen. Die Gemeindeleiterin war gestern für eine Stellungnahme nicht zu erreichen. Im September sagte sie aber zur «Aargauer Zeitung», es bestehe keine Dringlichkeit, Anpassungen vorzunehmen. Denn für viele Anwohner gehöre das Glockengeläut zum Start in den Tag und sei gleichzeitig ein Aufruf zum Gebet.