Baden
«Die Menschen leiden und wissen nicht warum»: Eine Psychologin erzählt, wie sich ADHS bei Erwachsenen zeigt

Nicht nur Kinder sondern auch Erwachsene können von ADHS betroffen sein. Fallbeispiele und Lösungsansätze liefert die Badener Psychologin Ruth Huggenberger in ihrem neuen Buch.

Ursula Burgherr
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Psychotherapeutin Ruth Huggenberger hat sich in ihrer Badener Praxis auf ADHS spezialisiert und gibt darüber ihr zweites Buch heraus.

Psychotherapeutin Ruth Huggenberger hat sich in ihrer Badener Praxis auf ADHS spezialisiert und gibt darüber ihr zweites Buch heraus.

Bild: Ursula Burgherr

ADHS steht für «Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung». Zu 80 Prozent wird die Erkrankung, bei der es sich um ein hirnphysiologisches Ungleichgewicht von Botenstoffen handelt, vererbt. Ruth Huggenberger ist Fachpsychologin für Psychotherapie und in ihrer Badener Praxis seit Jahren auf ADHS-Patientinnen und -Patienten spezialisiert. Gemäss Recherchen sind 4 Prozent aller vom Syndrom Betroffenen Erwachsene.

Die Dunkelziffer ist aber laut Huggenberger weitaus höher: «Es gibt in der Schweiz immer noch zu wenige Fachstellen zur Abklärung und die Wartezeit für Betroffene ist oft lange», sagt sie. Mit ihrem ersten Buch über ADHS wandte sich die 56-jährige Fachfrau vor allem an Familien, Angehörige und Eltern, deren Nachwuchs betroffen ist. Ihr zweites Werk «ADHS – unter der Spitze des Eisberges» handelt nun von der adulten ADHS, die oft noch überhaupt nicht erkannt wurde.

Hyperaktivität bei Kindern, Unruhe bei Erwachsenen

Die Betroffenen stehen unter ständigem Leidensdruck, verspüren Hilflosigkeit, geraten immer wieder in Streitigkeiten, fühlen sich sozial ausgegrenzt. Auch finanzielle Schwierigkeiten, Scheidungen sowie Auflösungen von Arbeitsverhältnissen können die Folge von einer unbehandelten ADHS im Erwachsenenalter sein. «Die Hyperaktivität, die bei Kindern oft festgestellt wird, kann sich später in innere Unruhe, Gereiztheit, Schlafstörungen und Stressintoleranz umwandeln», sagt Huggenberger.

In ihrem neuen Werk beschreibt sie zahlreiche Fallbeispiele und deren Auswirkungen auf das Umfeld. Und gibt dazu Lösungsansätze, die auf ihrem langjährigen Erfahrungsschatz beruhen. «Unter dem Eisberg liegen oft frühkindliche Negativerfahrungen, Traumata und Verdrängungsmechanismen, die später zu Triggerpunkten werden», sagt Huggenberger. «Diese gilt es in der Therapie sorgfältig an die Oberfläche zu holen und zu bearbeiten.»

Das Schlimmste sei immer die Ungewissheit. «Die Menschen leiden. Sie wissen, dass mit ihnen etwas nicht stimmt. Haben aber oft keine Ahnung, woher dieser Druck stammt.»

Huggenberger klärt ADHS bei ihren Patientinnen und Patienten mittels Fragebogen, verschiedenen Intelligenz-, Wahrnehmung- und Persönlichkeitstests sowie mit einer eingehenden Anamnese ab. Ergeben diese Abklärungen, dass ein Patient oder eine Patientin an ADHS leidet, gibt sie ihnen in Gesprächen Strategien und Behandlungsansätze mit auf den Weg, damit sie den Schritt in ein freies, selbstbestimmtes Leben wagen können.

Krankheit kann auch positive Facetten annehmen

Die Fallbeispiele in ihrem Buch «ADHS – unter der Spitze des Eisbergs» sind anonymisiert, erzählen offen über die erlittenen Verletzungen der Betroffenen in der Vergangenheit und wie sie dank Therapie langsam wieder Vertrauen in sich selber aufgebaut haben. Dass ADHS nicht nur negative sondern durchaus auch positive Facetten hat, kommt im Buch ebenfalls zum Ausdruck. «Menschen, die damit leben, zeichnen sich durch Begeisterungsfähigkeit, Neugierde, Kreativität und vieles mehr aus», sagt die Psychotherapeutin. «Sie machen unseren Alltag bunter.»

Auch medikamentöse Therapien können sehr wirksam sein. Allerdings braucht es dafür jeweils eine sorgfältige Abklärung und die richtige Einstellung des Präparats. Huggenberger sieht in der medikamentösen Therapie durchaus einige Vorteile: «Ich erlebe bei Erwachsenen oft, dass sie sich dadurch besser konzentrieren können und ihre Lebensqualität dadurch insgesamt gesteigert wird.»

«ADHS – unter der Spitze des Eisbergs» (Strategien für Partnerschaften und Familien) von Ruth Huggenberger ist im hogrefe-Verlag erschienen. ISBN 978-3-456-86121-0 (auch als e-book erhältlich). Am 12. Mai 2022 um 19.30 Uhr findet in der Buchhandlung Librium in Baden die Buch-Vernissage statt.