Corona, Umweltzerstörung und nun der Ukraine-Krieg: Minderjährige tragen mehr Sorgen mit sich als früher. Wegen des Konflikts in Europa erwarten zwei Badener Institutionen bald einen weiteren Anstieg von psychischen Erkrankungen.
Depressionen, Angststörungen, Schlafprobleme und Suizidgedanken: Seit Jahren nehmen psychische Erkrankungen zu – bei Erwachsenen, vor allem aber auch bei Kindern und Jugendlichen. Im Badener Ambulatorium der Psychiatrischen Dienste Aargau (PDAG) und im Badener Beratungszentrum BZBPlus haben sich die Anmeldezahlen in den vergangenen fünf Jahren verdoppelt.
Die Coronapandemie hat den negativen Trend weiter verschärft. Und jetzt herrscht auch noch Krieg – in Europa, unweit des ansonsten so sicheren Umfelds.
Angelo Bernardon, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der PDAG, sagt:
«Solche Ereignisse können grosse Unsicherheit und Ängste bei Kindern und Jugendlichen auch in der Schweiz auslösen.»
Zum einen seien dies Zukunftsängste, zum anderen Angst über die Bewältigbarkeit dieser schweren Krise. Gleichzeitig gebe es Minderjährige, die Verwandte in der aktuellen Kriegsregion oder selbst Flucht oder kriegerische Ereignisse erlebt hätten. «Bei ihnen können traumatische Erinnerungen wieder reaktiviert werden und zu psychiatrischen Symptomen führen», sagt Bernardon.
Trotz der potenziellen Gefahren bemerken momentan weder das Ambulatorium noch das BZBPlus eine direkte Auswirkung des Ukraine-Kriegs. Das heisst, wegen des Konflikts allein verzeichnen sie keinen Anstieg der Anmeldezahlen.
Das wiederum bedeutet jedoch nicht, dass die Krise keinen Anlass für psychische Probleme gibt. «Es kann gut sein, dass Jugendliche, die ohnehin schon Schwierigkeiten haben, dadurch zusätzlich psychisch belastet werden», sagt Michael Schwilk, Geschäftsleiter von BZBPlus und fügt an:
«Je länger der Krieg andauert, desto mehr werden Kinder und Jugendliche davon traumatisiert werden – besonders Geflüchtete.»
Dass in die Schweiz geflüchtete Minderjährige derzeit noch keine psychologische Hilfe in Anspruch nehmen, macht für Schwilk Sinn: «Sie brauchen zuerst eine Basis der Grundbedürfnisse, also ein Dach über dem Kopf, Arbeit, schulische Bildung und sprachliche Kenntnisse.» Ein Trauma könne vermutlich erst bearbeitet werden, wenn diesbezüglich Ruhe und Stabilität einkehren – das dürfte frühestens ab etwa einem halben Jahr der Fall sein.
«Wir beobachten die Situation ganz genau und stellen uns darauf ein, dass ukrainische Kinder und Jugendliche künftig psychologische Unterstützung benötigen werden», sagt Schwilk. «Schon heute unterstützen wir Jugendliche mit ukrainischen Wurzeln, die noch Verwandte in der Ukraine haben.» Auch die PDAG bereiten sich laut Bernardon darauf vor, insbesondere den geflüchteten Minderjährigen entsprechend helfen zu können.
Derzeit sei es essenziell, auch Schweizer Kindern und Jugendlichen die Ängste in Bezug auf den Ukraine-Krieg zu nehmen. «Im Moment ist in erster Linie die Sensibilität und die Aufmerksamkeit der nahen Angehörigen beziehungsweise der Kindeseltern wichtig», sagt Bernardon. «Diese sollten ihre Kinder altersadäquat aktiv auf ihre Wahrnehmung und die Sicht der Situation ansprechen.»
So hätten sie die Möglichkeit, deren Gefühle und Ängste zu erfahren und darauf eingehen zu können – und auch mögliche Irrtümer oder missverständliche Informationen auflösen zu können. «Durch das Gespräch mit den Eltern und deren Einschätzung können die Kinder wieder Sicherheit gewinnen und die Bewältigbarkeit der Situation wieder leichter erkennen», sagt Bernardon.
Egal ob jemand direkt betroffen oder gar nicht tangiert ist: «Ein Krieg ist Zündstoff für Zukunftsängste», sagt Schwilk. Lösen die gegenwärtigen Umstände bei einer Person Depressionen oder Angstzustände aus, gilt es, den Fokus wieder auf die eigene Welt und auf alles Positive darin zu legen und die eigenen Ressourcen zu aktivieren. Dabei können Beratungsangebote wie dasjenige von BZBPlus unterstützen.
Das gilt zudem nicht nur in der aktuellen Situation, sondern ohnehin immer. Schwilk sagt:
«Der Krieg ist im Moment ein akutes Thema. Bis vor kurzem war es Corona, vorher die Umweltzerstörung.»
Und diese vorangegangenen Probleme hätten sich schliesslich auch nicht einfach in Luft aufgelöst, sondern sich vielmehr subsumiert.
«Viele Minderjährige tragen allgemein mehr Sorgen mit sich als früher», sagt Schwilk. Er geht deshalb davon aus, dass psychische Belastungsstörungen und Erkrankungen in Zukunft eher weiter zunehmen werden. Umso wichtiger, dass vor allem Kinder und Jugendliche auf breite Unterstützung zählen können – im familiären Rahmen wie auch professionell.