Familie Stieger aus Baden lebt seit vier Jahren in Kenia. Als Weisse im fremden Land haben sie es aber nicht immer einfach.
«Mami, s’isch chalt», jammert Alice. Vater Roland Stieger hält seiner 8-jährigen Tochter eine Jacke hin. Die Familie ist sich anderes Wetter gewohnt als das hier in Baden. In Kenia herrschen konstant Temperaturen um die 30 Grad. Dort leben Stiegers nämlich normalerweise. In der Schweiz, ihrer eigentlichen Heimat, sind sie nur zu Besuch. Freunde und Familie mal wieder sehen. Mal wieder Schweizer Luft schnuppern.
Der Badener Arzt Roland und seine Frau Silvia wohnen seit vier Jahren in Kenia. Genauer gesagt in Kilifi, nördlich der Stadt Mombasa. Dort engagieren sie sich als Angestellte der Schweizer Nicht-Regierungs-Organisation (NGO) Comundo in Kooperation mit kenianischen Partnern. Mit ihnen ausgewandert sind die Kinder Julian und Alice. Julian war gerade einmal zwei Jahre alt bei seinem Umzug, Alice vier. «Sie waren noch zu klein, um richtig zu begreifen, was vor sich geht», sagt Mutter Silvia Stieger. Das habe den Umzug einfacher gemacht. Ausserdem haben sich die Kinder schnell in der neuen Heimat eingelebt. Trotzdem wird die Familie immer wieder mit Situationen konfrontiert, die sich so in der Schweiz nicht ergeben würden.
«Die Schere zwischen Arm und Reich ist in Kenia so viel grösser», erzählt Silvia Stieger. «Ausserdem protzen Kenianer gerne. Wenn man etwas hat, zeigt man es auch.» Roland Stieger ergänzt: «Es gibt immer wieder Stromausfälle, Wasser ist teilweise knapp. Wir leben zwar gut, aber bescheiden.» Der grösste Unterschied besteht in der Hautfarbe. «Für einmal sind wir die Aussenseiter, die ‹Anderen›», sagt der Arzt. «Ich vermisse es, nicht aufzufallen, nicht anders zu sein», räumt Ehefrau Silvia ein. «Es ist nervig, ständig wegen unserer anderen Hautfarbe angeschaut zu werden.» Auch für die Kinder waren diese Umstände am Anfang schwierig. Je nach Situation waren sie die einzigen Hellhäutigen, wurden «Mzungu» genannt, «Weisse». Einheimische wollten über ihre Haut streichen, fassten ihre Haare an. «Viele Kenianer waren noch nie aus ihrem Land raus, sie kennen ‹das Neue› nicht», erklärt sie.
Trotzdem geniessen Alice und Julian die Zeit in Kenia, lernen die Nationalsprache Swahili, sprechen fliessend Englisch. Sie besuchen derzeit eine internationale Schule. Eine Nanny begleitet sie zum Schulbus und holt sie anschliessend wieder ab. «Wir lassen die Kinder kaum aus den Augen», sagt Silvia Stieger. «Und wir sensibilisieren sie anders, als wir es in der Schweiz tun würden. So bringen wir ihnen etwa bei, nicht im hohen Gras zu gehen, weil es dort Schlangen geben könnte.» In ihrer Freizeit geht die Familie oft ans Meer. Aber nur tagsüber. Abends gehen die vier kaum weg, bewegen sich auf eingeschränktem Raum. «Kenia ist gefährlicher als die Schweiz», sagt Roland Stieger. «Es gibt mehr Kriminalität. Aber der Strassenverkehr ist das grösste Risiko.»
Auch die Arbeit im mittlerweile gar nicht mehr so fremden Land birgt stets neue Herausforderungen. So gibt es noch immer viele Analphabeten, die Standards zwischen den zwei Ländern unterscheiden sich gewaltig. «Es ist wichtig, den Einheimischen Raum zu geben, damit sie eine Aufgabe auf ihre Art lösen können», erzählt Silvia Stieger. «Wir wollen ihnen nichts aufdrängen oder ihnen das Gefühl geben, ihnen überlegen zu sein.»
Roland Stieger unterstützt die Ausbildung von medizinischem Fachpersonal in der Notfallmedizin und im Ultraschall. Er arbeitet als Dozent und integrierter Berater in einer medizinischen Berufsschule und geht für Supervisionstätigkeit regelmässig in zwei öffentliche Spitäler. Dabei geht es vor allem um angewandten Unterricht. «Es gibt in Kenia viel weniger Ärzte als hier in der Schweiz. Das lässt mehr Spielraum für Alternativen zu», erzählt der Badener. «Die meisten Patienten gehen bei einem gesundheitlichen Problem als Erstes zu einem Naturheiler.» Die medizinische Realität und die staatliche Versorgung seien knallhart und unzuverlässig. «Ich möchte hier wirklich keinen Notfall haben.» Dann klopft er schnell auf Holz und lacht.
Silvia Stieger arbeitet mit NGO zusammen und hilft ihnen, selber ein Einkommen zu generieren und nicht von Spenden abhängig zu sein. «Es ist eine grosse Herausforderung. Die Kenianer denken teilweise so anders als wir.» Das vor einem Jahr gestartete Projekt musste sie mittlerweile aufgeben. «Die Interessen der NGO und meine waren zu verschieden. Meine Ansätze fanden nicht genug Gehör.» Sie hilft nun weiterhin kleinen, lokalen Unternehmen in der Organisationsentwicklung speziell bezüglich ihrer Struktur und der Entwicklung ihrer Wertschöpfungskette. Einfach gesagt: Sie bietet Hilfe zur Selbsthilfe.
Mittlerweile ist die Familie bereits wieder zurück nach Afrika gereist. «Wenn alles gut läuft, kommen wir erst Ende 2020 wieder hierher», sagt Silvia Stieger. Dann läuft nämlich das dreijährige Projekt von Comundo ab. Es ist bereits das zweite Projekt in personeller Entwicklungszusammenarbeit, das die Familie in Angriff nimmt. «Nach den ersten drei Jahren hatten wir einfach noch nicht genug», erzählt Roland Stieger. So oder so sei der Anfang bei dieser Art von Zusammenarbeit immer schwierig, weil man nicht einfach ein konkretes Projekt in Angriff nimmt, sondern die eigene Erfahrung mitbringt. Silvia Stieger ergänzt: «Ein Alltag muss sich etablieren. Erst dann kann Veränderung bewirkt werden.»
In zwei Jahren wird das Abenteuer also vorerst zu Ende sein. Und das sei dann auch gut so: «Mir fehlen meine Freunde und die Familie schon sehr», sagt Roland Stieger. Seine Ehefrau hat damit weniger Mühe: «Ich vermisse es eher, mich frei bewegen zu können, nachts rauszukönnen.» Das Leben in Kenia sei mit vielen Einschränkungen verbunden. Trotz allen Schwierigkeiten und trotz des Kulturschocks sind sich die beiden aber einig: «Es ist ein Privileg, diese Erfahrungen sammeln zu dürfen.»