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Andreas Schildknecht ist Bestatter. Er trägt immer Anzug - aus Respekt vor den Verstorbenen und den Hinterbliebenen. Seine ruhige Art hilft den trauernden Menschen. Mit ihm machen die Verstorbenen ihre letzte Fahrt. Er ist zum Bestatter berufen.
Wächsern liegt die Frau auf ihrem Bett im Pflegeheim. Sie ist tot, zwischen ihren Händen liegen Blumen und eine Bleistiftzeichnung. Bestatter Andreas Schildknecht rollt einen Sarg durch die Zimmertür bis neben ihr Bett.
Seit Mai ist Schildknecht Leiter der Firma Badener Bestattungen. Seither trägt er immer Anzug, Hemd und Krawatte – aus Respekt vor den Hinterbliebenen. Als Bestatter ist er einer der ersten Menschen, die den Angehörigen begegnen. Sie vertrauen ihm ihr Liebstes an. «Wenn ich komme, dann wissen sie, ich nehme es mit, egal ob Vater, Mutter, Schwester, Bruder oder das eigene Kind.»
Mit seinem Arbeitskollegen Enrico Kretz breitet er einen durchsichtigen Plastik neben der Frau aus. Als er die Verstorbene sachte zur Seite dreht, verliert sie Flüssigkeit aus ihrem Mund. Schildknecht holt ein Tuch aus der Toilette, wischt ihr den Mund ab, dann legt er es über die feuchte Stelle auf dem Bett. Vorsichtig dreht er die Frau auf den Plastik zurück. Schildknecht und Kretz heben den Plastik mit der Frau in den Sarg, falten ihr die Hände, legen ihr die Blumen und die Zeichnung wieder zwischen die Finger. Schildknecht streicht ihr die Haare glatt. «Ich kenne die Frau nicht; weiss nicht, welches Leben sie geführt hat», sagt er. Trotzdem behandelt er ihren Körper mit viel Respekt. «Ich stelle mir immer vor, die Person kann mich sehen und beobachtet, wie ich mit ihr umgehe.»
Vom Plastik ist nichts mehr zu sehen, die beiden schliessen den Sarg. Schildknecht klebt ein Etikett mit dem Namen, Geburts- und Sterbedatum auf den Sarg und den Deckel. «Viele Bestatter benutzen dafür einen Tucker. Aber ich finde es unangebracht, Klammern in den Sarg zu tuckern.» Schliesslich liege eine verstorbene Person im Sarg und keine Ware.
Die Bestatter bringen den Sarg mit der Frau zum Auto. Ein weinroter Van, dessen Seiten ein goldenes Kreuz ziert. Zwischen Fahrer- und Beifahrersitz steht bereits eine Urne in einer Kartonschachtel. An der Schachtel sind zwei Formulare angeheftet, eines der Gemeinde und eines vom Krematorium. Schildknecht fährt Richtung Krematorium.
Enrico Kretz fährt mit seinem eigenen Auto zum Mittagessen. 22 Jahre lang war er Bestatter in Zürich; jetzt bildet er Schildknecht aus. «Andreas wirkt auf andere sehr beruhigend», sagt Kretz. Im Umgang mit Trauernden habe er ihm überhaupt nichts mehr beibringen müssen. «Ich weiss nicht, woher das bei ihm kommt, aber er ist der perfekte Bestatter.» Schildknecht hat sich lange überlegt, ob er diesen Beruf wirklich machen will. «Doch jetzt fühle ich mich berufen dazu. Mich fasziniert es, diesen Menschen zu begegnen, die in einer Krisensituation sind, ihnen beizustehen und Trost zu spenden.»
Erfahrungen mit dem Tod hat Schildknecht schon viele gemacht. «Als Krankenpfleger habe ich lange Zeit Menschen in den Tod begleitet», sagt der 38-Jährige. «Das war etwas vom Schönsten auf der Pflege.» Denn er habe sich viel Zeit für seine Patienten nehmen können. «Durch die Gespräche mit den Sterbenden kommt man sich selber sehr nahe in diesem Prozess.» Die Patienten hatten Angst zu gehen und vor dem, was nach dem Tod kommt. «Ich habe versucht, ihnen diese Angst zu nehmen, und dadurch viel über mein eigenes Sterben nachgedacht», sagt er.
Das Tor zum Krematorium öffnet sich. Schildknecht fährt bis vor den Eingang des Gebäudes. Dann zieht er den Sarg auf ein Rollgestell und schiebt ihn in die Eingangshalle – aus Respekt immer mit den Füssen voran. Er öffnet den Sarg und schaut, ob die Frau immer noch so liegt, wie er sie eingebettet hat. «Egal, welches Leben sie hatte, ihre letzte Fahrt hat sie mit mir gemacht. Das ehrt mich und es ist eine Verantwortung, die man gegenüber diesem Menschen wahrnimmt.»
Im Frühling ist Schildknechts Mutter an Sklerodermie gestorben. Ihr Körper fing an, gegen sie zu arbeiten. Er zählt auf: «Bewegungseinschränkung, Verlust der Muskulatur, gestörtes Wärme-Kälte-Empfinden. Es gibt keine Heilung.» Am Ende versagten ihre Nieren, Leber, Lunge und ganz am Schluss ihr Herz. Sie wurde 58 Jahre alt. «Als sie starb, fühlte ich mich befreit. Ich hatte das Gefühl, sie sei in mir drin und lässt mich spüren, dass es ihr jetzt gut geht.» Schildknecht schloss ihre Augen und zog ihr ihre Lieblingskleider an.
Der Prozess des Sterbens sei eine Transformation, sagt er. «Der Körper verändert sich. Die Seele oder das Immaterielle, wie auch immer man es nennen will, verlässt den Körper.» Wenn jemand stirbt, sei das wie ein Gewitter, das sich entlädt. «Kurz vor dem Tod scheint die Luft elektrostatisch geladen zu sein. Die Trauer danach gleicht dem Regen.»
Schildknecht schreibt Namen, Wohnort und Sterbedatum der Frau an eine weisse Tafel an der Wand. Dann schiebt er den Sarg in die Kühlhalle. Drei Särge stehen bereits da. 11⁄2 bis 2 Stunden wird es dauern, bis die Verstorbene im Ofen zu Asche geworden ist. Danach wird der Ofenwart mit einem Magnet alle Sargnägel und Metallteile herausfiltern, bevor ihre Asche gemahlen wird. Dann kommt der Aschestaub in eine Urne.
«Wenn viel Betrieb ist, stehen in der Kühlhalle über 20 Särge.» Aber heute ist es so ruhig wie damals an Schildknechts erstem Arbeitstag. Erst um 20.50 Uhr klingelte sein Pikett-Telefon. Am anderen Ende ein Polizist der Einsatzzentrale, ein Suizid, eine junge Frau, ein Sprung in den Tod. Schildknecht war nervös. «Es war mein erster Einsatz und ich wusste, die Polizei, die Staatsanwaltschaft und Passanten würden dort sein und ein Auge auf mich haben.» Er machte alles richtig, der Staatsanwalt lobte ihn. Doch Schildknecht ging der Fall sehr nahe. Er kümmerte sich um den hinterbliebenen Partner der Frau. «Wir gingen zusammen an den Ort, wo die Frau aufprallte. Er wollte das begreifen, im wahrsten Sinne des Wortes.» Schildknecht tat in diesem Fall mehr, als ein Bestatter normalerweise tut. «Der Hinterbliebene betete ungefähr eine Stunde lang an dieser Stelle und konnte so Abschied nehmen.»
Wenn Schildknecht zu einem tödlichen Unfall gerufen wird, muss er mit allem rechnen, auch mit Kindern. Der Fall beim Kreisel in Spreitenbach, als ein vierjähriger Knabe aus einem Auto fiel und überfahren wurde, brachte ihn zum Nachdenken. «Nachdem wir den Jungen geholt hatten, beschäftigte mich nicht nur der Gedanke an die Eltern, sondern vor allem die Frage, was in jener Person vorgehen muss, die den Jungen überfahren hat.» Wenn solche Schicksale eintreffen, dann sei es wichtig, im Team darüber zu sprechen. «Aber privat kommt es vor, dass ich nach Tagen mit solchen Einsätzen mit niemandem sprechen möchte und das Geschehene ruhen lasse.»
Als Schildknecht die kalte Halle im Krematorium verlässt, ist es 13 Uhr. Auf dem Rückweg bringt er die Urne, die bereits seit dem Morgen zwischen Fahrer- und Beifahrersitz steht, zum Friedhof. Danach geht er Mittag essen. Eine Stunde später wird er ins Kantonsspital Baden gerufen.