Daniel Cortellini schreibt heute über die Kunstwerke an der Müllerbräu-Mauer. Sie erinnern ihn daran, dass Herunterfahren wichtiger als Geldverdienen ist.
Kürzlich schlenderte ich zu meiner Zahnärztin, eine so feine Person, dass man sich regelrecht freut, wenn man sie aufsuchen darf – aber darum geht’s hier nicht. Vielmehr war ich eine Viertelstunde zu früh dran und nahm den sonnigen Weg hinter ihrer Praxis im Langhaus, wo ich der verschiedenen Kunstwerke an der Müllerbräu-Mauer gewahr wurde. Meter für Meter schritt ich sie ab, und mit jedem solchen wuchs meine Bewunderung für die Kunstschaffenden, welche hier wohl frei von jeglichem Kommerz ihre Gedanken und Schaffenskraft manifestiert hatten.
Da sah ich topmoderne und gleichzeitig nostalgisch anmutende Bildnisse, ich entdeckte ein Konstrukt, welches mit einer alten SBB-Zug-Lokomotive im Zentrum einen gefrässigen und beängstigenden Techno-Roboter darstellte, quasi: Der Fortschritt frisst uns auf! Ich staunte über sorgsame Farben und Formgebungen, ja sogar die Graffiti-Motive waren gefühlt dreidimensional, perfekt realisiert und faszinierend. Kunst kommt von Können – ein jeder schien mir hier ein Könner zu sein in dieser Hinterhof-Kunstgalerie.
Und plötzlich schämte ich mich. Wie oft war ich schon hier vorbeigestresst, ohne diese Bildnisse richtig wahrzunehmen? Wie oft war ich eingeklemmt zwischen zwei Terminen, einem Anlass, einer Degustation – just on the run! –, ohne diese erfrischend zeitlosen Darstellungen gebührend zu würdigen? Diesen Freigeistern gerecht zu werden?
Dass ich es jetzt (endlich wieder) kann, hat viel mit Covid zu tun. Wie viele andere habe ich gelernt, dass es mit Weniger auch geht. Dass Herunterfahren wichtiger als Geldverdienen ist. Gewusst habe ich es schon immer – aber Covid gab mir den Grund, es mal wieder richtig zu erleben. Zehn Prozent weniger Umsatz, das kalkuliert jeder Unternehmer als Worst-Case-Szenario ein. Aber 30 Prozent Minus war undenkbar – bis du es mal erlebt hast und ... überlebst! Und das Ganze erst noch sackeglücklich!
Und so erinnerte ich mich an meine Anfänge, wo ich mit 30 die Kunst des Lebens noch so richtig zu zelebrieren wusste. Wo ich mal «ausgestiegen» war, um dem Gestresse zu entgehen. Von wo ich wie vom Regen in die Traufe wieder in die Erfolgsspirale gerutscht war, ins Perpetuum mobile. Den Laden halten musste, die Umsätze steigern wollte, wie so viele. Nicht aus Gewinnsucht, sondern aus puren existenziellen Überlegungen. Erreichst Du das Vorjahr, fühlst Du Dich sicher – am liebsten aber fünf Prozent mehr, dann bist Du ganz sicher! Bis uns eben Covid alle bremste.
Möge mich niemand verachten, aber ich bin auch zutiefst dankbar für die letzten zwei Jahre der Krise – sie haben mich gelehrt, Undenkbares zu denken, und dadurch den Horizont erweitert.
Fazit: Ich empfehle jedem Menschen die kostenlose Hinterhofausstellung zwischen Langhaus und Müllerbräu. Aber bitte: Nimm Dir Zeit!
*Daniel Cortellini betreibt an der Rathausgasse in Baden ein Fachgeschäft für Schweizer Weine. Er ist in Baden aufgewachsen und war während fünf Jahren Präsident der Unteren Altstadt Baden.