Simon Libsig landet heute auf der Strasse - wie ein neuer Entsorgungskalender ein Quartier zusammenbringt.
Ich vermute, dass ich ihn entsorgt habe. Den neuen Entsorgungskalender. Und zwar unbesehen. Zack, weg. Der alte hängt ja noch am Kühlschrank, dachte ich. Und auch den habe ich schon lange nicht mehr konsultiert. Ich weiss ja: Sonntagabends Müll raus. Mein Job. Und Dienstagmorgens die grüne Tonne. Das macht meine Frau. Und das funktioniert bestens.
Dienstags wenigstens. Sonntags etwa jedes dritte Mal. Ja. Manchmal wächst meine Aufgabe, sie wird grösser und grösser, bis es dann tatsächlich eine Herkulesaufgabe ist, den ganzen Müll zur Strasse hoch zu wuchten. So auch vor ein paar Tagen. Wir hatten die Ferien genutzt, um auszumisten. Andere fliegen auf die Malediven. Wir waren im Keller und in der Garage und im Luftschutzraum. Judihui. Aber mit viel Alkohol geht’s. Ich habe einfach gebechert, als wäre ich im Malediven-Urlaub. Und geschwitzt habe ich auch. Im Schatten. Fünfundzwanzig 60 Liter-Säcke. Und das waren wirklich Säcke! Keine Tüten. Sack-rament nochmal!
Als der ganze Müllberg am späteren Montagmorgen immer noch nicht abgeholt worden war, dachte ich, da ist etwas faul. Also. Ich roch es auch. Da war ganz viel faul. Es hatten ja alle im Quartier ihren Müll rausgebracht. Obwohl. Nicht ganz alle. Der Allmendstrasse entlang zählte ich fünf abfallfreie Haushalte. Hmm? Was wussten die, was wir nicht wussten? Bei so viel Unrat ist guter Rat teuer, dachte ich, und klingelte. Bei den ersten dreien war gar niemand da. Vermutlich Malediven. Aber bei der vierten Tür öffnete mir eine weise alte Frau.
Ich nenne sie die Geheimnisträgerin. Sie bat mich herein und führte mich zu ihrem Kühlschrank. Und da funkelte er. Im warmen Licht, das plötzlich durch das Küchenfenster einfiel. Der nigelnagelneue Entsorgungskalender 2022. Ja. Ob ich ihn denn nicht erhalten habe, wollte die Geheimnisträgerin wissen. Der Tag habe gewechselt. Sonntag sei nicht mehr aktuell... mir wurde schwindelig. Wohl sagte sie noch mehr, aber ihre Worte verschwammen, ich hörte nur noch ein Knistern im Ohr, als ich aus ihrem Haus stolperte... Sack-rament, wie kann man denn in Zeiten der Unsicherheit noch mehr Unsicherheit schaffen, und wichtige Fixpunkte aufheben, Routinen, an denen wir uns noch festhalten können?
Nehmt mir auch noch den Abfall-Sonntag und dann bin ich bald komplett orientierungslos! Ich schniefte. Schnupperte. Dann drehte ich meinen Kopf. Das Knistern, das warme Licht, es kam von der Allmendstrasse. Es hatte begonnen.
Wer das erste Zündhölzli bzw. den ersten Gebührensack anzündete, sage ich nicht. Nennen Sie mich Geheimnisträger. Aber die alten Ölfässer rollte ich herbei. Sie gehörten zu einer Kunst-Installation, die ich einmal ersteigert hatte, nun konnte ich sie auch endlich einmal brauchen. Das war nicht abgehoben. Das war real. Das war Neapel in Baden.
Die Müllberge brannten und wir standen um die Fässer herum und wärmten unsere Hände. Immer mehr Nachbarinnen und Nachbarn kamen hinzu. Brachten Weisswein und die Reste von der Weihnachtsvöllerei. Aus einem Handy sang Elvis «in the Ghetto.» Und bei mir kam zum ersten Mal so richtig Ferienstimmung auf. Am Schluss tanzten wir noch auf den Dächern unserer Autos und sprayten Graffitis an den 5er-Bus, mit Schlagrahm-Dosen. Es war wild. Es tat gut. Es war ein Anfall von Freude, dank dem Abfall der Leute.
Poet Simon Libsig (42) hat zuletzt den Krimi «Der Velodieb, der unters Auto kam» veröffentlicht. Seine Kolumne erscheint einmal im Monat.