Hier fanden in den Sechzigerjahren grosse Veränderungen statt. Seither ist Ruhe eingekehrt im Quartier mit den eindrücklichsten Plätzen Badens
Muss man ein Fazit aus der Entwicklung des Chrüzliberg-Quartiers in den letzten Jahrzehnten ziehen, sticht vor allem eines hervor: Hier ist es sehr viel ruhiger geworden. Das hat vor allem mit den baulichen Veränderungen seit den Sechzigerjahren zu tun, als die sogenannte kleine Bahnverlegung – viel mehr eine grosse Verkehrssanierung – das Bild der ganzen Stadt, aber vor allem auch das Bild des Quartiers veränderte. Der Eisenbahntunnel durch den Schlossberg wich einem Strassentunnel und die Gleise, die damals noch über die Neuenhoferstrasse und den heutigen Schulhausplatz führten, wurden verlegt.
Bis die Neuenhoferstrasse im Jahr 1963 von Autos befahren werden konnte, war die Zürcherstrasse die Hauptachse und viel Verkehr ausgesetzt. Kaum vorstellbar, begegnen einem hier doch inzwischen nur noch wenige Autos und gefühlt noch weniger Menschen. Die Autos rauschen stattdessen nonstop unten auf der Neuenhofer-strasse vorbei, was das Spaziergangsgespräch mit Quartiervereinspräsidentin Ruth Sulzer der Zürcherstrasse entlang stets mit einem konstanten Hintergrundgeräusch belegt.
Trotzdem: «Es ist wirklich ruhiger geworden», sagt auch sie, die darüber aber überhaupt nicht traurig ist: «Das macht mir gar nichts aus.» Vielmehr sorgte vor kurzem eine der grössten Veränderungen der letzten Jahre für ein wenig Aufregung. So entstand, gleich neben Sulzers 1916 gebautem Elternhaus an der Brunnmattstrasse, ein Neubau, der ein altes Haus, das seit zwei Jahren leer stand, ersetzte. Doch die Bedenken seien rasch verflogen, sagt die 75-Jährige. Da der Bauherr die umliegende Nachbarschaft in die Projektplanung mit einbezogen habe und deren Meinung wissen wollte, sei zum Beispiel die Fassade etwas heller ausgefallen. «Das hat unser Vertrauen in den Bau gestärkt», so Sulzer. Inzwischen sind die ersten Einwohner eingezogen.
Rehe und Füchse sind unsere Nachbarn. Ohne Zaun würden sie einfach hineinkommen und ihre Geschäfte machen.
(Quelle: Ruth Sulzer)
Durch den Bau hat sich Sulzers Aussicht von ihrem Haus aus, das ihr und ihrer Schwester gehört, doch etwas verändert. Das stört die Familie aber nicht besonders, ist ihr Zuhause doch direkt am Waldrand gelegen: mit viel eingezäuntem Land, in der Mitte die stattliche Modelleisenbahn, ein Hobby ihres Mannes. Eingezäunt ist das Grundstück aber nicht deshalb, sondern: «Rehe und Füchse sind unsere Nachbarn. Sie würden ansonsten einfach hineinkommen und ihre Geschäfte machen», erklärt Sulzer. Auf dem Weg begegnen wir auch einem Marder – am helllichten Tag. «Das ist normal hier», meint Sulzer lachend.
Sie hat nie woanders als im Chrüzliberg-Quartier gelebt. Hier ist sie geboren, aufgewachsen, in die Schule gegangen – und inzwischen arbeitet sie auch hier. Seit 22 Jahren führt sie ein Treuhandbüro für ältere Leute. Und sie hat nicht vor, in nächster Zeit kürzerzutreten.
Sulzer ist bei weitem nicht die Einzige im Quartier, die Gewerbe angemeldet hat. Im Chrüzliberg-Quartier haben unzählige grössere und kleinere Unternehmen ihren Sitz. So sind auf der anderen Seite der viel befahrenen Neuenhoferstrasse, die ebenfalls noch zum Quartier gehört, unter anderem die Parkgarage und die Produktionsstätte «Fredys AG» des bekannten Gipfeli-Königs Fredy Hiestand angesiedelt. «Auf dem Dach sind fünf Bienenhäuser installiert», weiss Sulzer. Hier sind zirka 250'000 Bienen angesiedelt, die Felder, Gärten und Sträucher rund um die Limmat bestäuben. Zudem geben sie naturbelassenen Honig, der in der Produktion eingesetzt werde, führt sie weiter aus.
Auch entlang der ganzen Zürcherstrasse, vom Friedhof Liebenfels bis ganz nach vorne zum Club «Gate 54», aber auch im länglichen Gebäude an der Mellingerstrasse, in dem unter anderem das bei der älteren Generation beliebte Konzertlokal «Prima Vista» untergebracht ist, sind viele kleinere Dienstleistungsbetriebe zu finden.
Dazu gehört auch das stadtbekannte Restaurant Kreuzliberg, das «Da Giacomelli», für viele Badener und Badenerinnen ein beliebter Ort zur Einkehr. Seit vielen Jahrzehnten ist das Restaurant im Besitz der Familie Giacomelli. Der Vorstand des Quartiervereins geht hier ebenfalls ein und aus. Während wir weiterlaufen, schwärmt Sulzer von der Gastfreundschaft, mit der sie dort jedes Mal empfangen werden.
Dann gelangen wir zu einer schönen, alten, gelben Villa, in der nicht gewohnt, sondern gearbeitet wird: Sie ist seit vielen Jahren schon die Heimat einer Gravierwerkstätte, einem Familienunternehmen. Kurz darauf begegnen wir dem dunkelgrauen Treupha-Haus aus den 60er-Jahren. Wo früher die berühmten Medikamente «Kamillosan» und «Treupel» hergestellt wurden, gehen heute diverse kleinere Unternehmen ihren Geschäften nach.
Inzwischen seien es vor allem Bauten aus den 60er-Jahren, die das Quartier prägen: «Früher hatte es hier viel mehr schöne alte Häuser», erinnert sich Sulzer zurück.
Ebenfalls in die Zeit der grossen Verkehrssanierung fällt der Bau des imposanten Tors, das den Eingang zum Friedhof Liebenfels markiert. Nachdem der alte Friedhof an der Brugger-strasse keinen Platz mehr hatte, avancierte der Liebenfels zum Hauptfriedhof. Einige Menschen mit klingenden Nachnamen – wie zum Beispiel Mitglieder der Familie Boveri – wurden hier bestattet. Der erste Teil des Baus fand von 1945 bis 1949 statt, als der südliche Teil mit den geschwungenen Wegen angelegt wurde. Von 1957 bis 1959 wurde das 14 Meter hohe Betontor sowie ein Gebäudekomplex mit Abdankungshalle, Hof und Krematorium erstellt.
Seit 2018 gibt es ein muslimisches Grabfeld, das Platz für bis zu 200 muslimische Grabstellen hat. Bisher wurde ein Verstorbener beigesetzt. Während dieses Grabfeld frei zugänglich ist, sind es die Gräber beim Judenfriedhof vis-à-vis dem Eingang auf der Seite der Zürcherstrasse, gleich bei der Grenze zu Neuenhof, nicht. Die Tore zum Judenfriedhof sind abgeschlossen, aus Angst vor Vandalismus.
Der Friedhof Liebenfels gehört zu den eindrücklichsten Friedhöfen der Region und ist auch dann einen Besuch wert, wenn man keine Verstorbenen hier besucht. Die ganze Anlage lädt geradezu zur Erholung ein: So sind hinten, versteckt hinter Bäumen, kleine Weiher angelegt worden, die immer einen Besuch wert sind. Hier fühlt es sich an wie in einer anderen Welt.
Wir kehren langsam wieder in die Realität zurück und spazieren in Richtung Brunnmattstrasse, zu Sulzers Haus, von wo sie täglich mehrmals mit ihrem Berner Sennenhund Wicki in den Wald aufbricht – wie der Friedhof ebenfalls eines der Markenzeichen des Quartiers. Ein paar wenige Schritte sind es nur und schon befinden wir uns im Wald des Chrüzlibergs. Hier befindet sich der mystische Teufelskeller, der seinen Namen einer Sage über eine Königstochter zu verdanken hat. Die Landschaft dort wird geprägt von Felsen von bis zu 20 Meter Höhe und 30 Meter Länge sowie riesigen Bäumen mit Höhen bis zu 50 Metern.
Wer nach weiter oben auf die Spitze des Kreuzlibergs wandert, zirka 20 Minuten von der Brunnmatt entfernt, begegnet dort seit Ende 2017 auch wieder einem fünf Meter hohen Holzkreuz, wie dies vor über 200 Jahren schon einmal der Fall war. Das zu realisieren, war nicht ganz einfach, erinnert sich Ruth Sulzer zurück. Es gab einigen Widerstand, der aber am Ende überwunden werden konnte. Hier oben erhält man einen atemberaubenden Ausblick auf die Stadt.
Sulzer liebt diesen Wald oberhalb ihres Zuhauses: «Das ist wie ein Urwald!» 1987 hat die Ortsbürgergemeinde Baden das Gebiet zum Naturwaldreservat erklärt, es wird so wenig wie nötig eingegriffen. Dementsprechend wild sieht es auch aus. Hier wird der Wald Wald gelassen, damit sich Flora und Fauna ausbreiten können.
Am Ende unseres Durchgangs, der kurz über quartierfremdes Gebiet führt, da die Wirtschaftsschule Baden zum Meierhofquartier gehört, landen wir beim Bahnhof Oberstadt. Das historische Gebäude ist seit Jahren Heimat der Galerie Anixis, auf der alten Nationalbahnstrecke fahren nur noch vereinzelt Züge.
Wir verabschieden uns beim Club «Gate 54», der früher einmal «Kiste» und noch früher «Ventil» hiess und davor ein Outlet einer Modemarke war. Einiges konstanter geht es ein Haus nebenan zu, bei «Abschnitt Uboldi», einem Coiffeurladen, der seit 33 Jahren von Beat Uboldi geführt wird. Uboldi wuchs auch im Chrüzliberg-Quartier auf und lebt immer noch im Gebäude, das sein Vater vor rund 70 Jahren gekauft hat. Inzwischen gehört es ihm und seinem Bruder. Uboldi übernahm den Laden von seinem Vater, der diesen ebenfalls übernommen hat: «Wenn ich mich recht erinnere, existiert das Coiffeurgeschäft bereits seit 1907», so Uboldi.
Die Cordulapassage hat es geschafft, die Stadt mit dem Chrüzliberg-Quartier zu verbinden.
(Quelle: Beat Uboldi)
Auch er findet, dass hier früher mehr los war: «Wir waren viel mehr Kinder und trafen uns auf der Strasse, um zu spielen.» Die Trennlinie ging da bis zur Unterführung, wo heutzutage oben die Züge in den Eisenbahntunnel donnern. Das Chrüzliberg-Quartier teilt sich hier quasi in zwei Teile: in die vordere Zürcherstrasse und in die Brunnmatt. «Die Kinder dort spielten bei sich hinten und wir blieben hier vorne.»
Seit den Sechzigerjahren habe sich baulich tatsächlich nicht mehr viel verändert: «Es wurde nur noch saniert.» Zwei für ihn wichtige Veränderungen der letzten Jahrzehnte seien für ihn ganz klar die Verkehrsberuhigung gewesen — und die Cordulapassage: «Die hat es geschafft, die Stadt mit dem Chrüzliberg-Quartier zu verbinden.» Nun fühle er sich viel mehr zugehörig zur Innenstadt. Uboldi lebt sehr gerne hier: «Für mich stimmt es ideal: Ich bin schnell in der Stadt und trotzdem nicht mittendrin».