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Der gläserne Stimmbürger: Wortprotokolle sind oft online lesbar

Wortprotokolle von Gemeindeversammlungen sind oft online abrufbar. Laut Aargauer Datenschützerin ist das heikel. Die Gemeindeschreiber sehen dagegen auch Vorteile für die politische Diskussion.

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Die Mehrheit der Gemeinden im Bezirk Baden stellt Wortprotokolle von Gemeindeversammlungen mit Namen der Votanten online zur Verfügung.

Die Mehrheit der Gemeinden im Bezirk Baden stellt Wortprotokolle von Gemeindeversammlungen mit Namen der Votanten online zur Verfügung.

Symbolbild/Shutterstock

Ein aktueller Fall in Bergdietikon wirft die Frage auf, wie öffentlich Wortprotokolle von Gemeindeversammlungen sein sollen und dürfen. In Bergdietikon wollte ein Bürger Einsicht ins Protokoll der Versammlung vom Juni bereits im Juli, also lange, bevor die öffentliche Aktenauflage stattfindet.

Die Gemeinde verwehrte dies zu Recht: Gemeinden publizieren Wortprotokolle erst mit der obligatorischen Auflage vor der nächsten Gemeindeversammlung. Im Fall von Bergdietikon also mit der Aktenauflage für die Gemeindeversammlung Anfang Dezember. Anders als Bergdietikon stellt die Mehrheit der Gemeinden im Bezirk Baden die Wortprotokolle mit den Namen und Voten der Bürger auf ihrer Gemeindewebsite zur Verfügung.

Dort sind die Protokolle dann über mehrere Jahre abrufbar. So auch in Spreitenbach, Killwangen Würenlos oder Niederrohrdorf. Das Aargauer Gemeindegesetz schreibt lediglich vor, dass Protokolle spätestens 14 Tage vor der Gmeind öffentlich einsehbar sein müssen. Aber wie dies zu geschehen hat, ist dort nicht festgelegt.

«Besonders schützenswert»

Die Aargauer Datenschutzbeauftragte Gunhilt Kersten erklärt: «Datenschutzrechtlich und bezüglich des Persönlichkeitsschutzes ist es heikel, Voten von Stimmbürgern ins Internet zu stellen, denn die Bundesverfassung garantiert das Recht auf Datenschutz. Das heisst, jeder Bürger hat das Recht, in den Schranken der Rechtsordnung selber über die Verwendung seiner Daten zu bestimmen.»

Eine Publikation von Äusserungen einer Person ohne ihre Einwilligung stelle einen Eingriff in dieses Grundrecht dar, hält Kersten weiter fest. Wie bei allen Grundrechten dürfe die Verwaltung nicht nach eigenem Gutdünken entscheiden, ob sie einen Eingriff vornehmen wolle. Zudem würden die Wortmeldungen einzelner Stimmbürger nicht zum erforderlichen Inhalt eines Protokolls gehören.

«Für die Gemeinden ist es zwar einfacher, die Protokolle unverändert online zur Verfügung zu stellen, statt sie zu anonymisieren oder per Post beziehungsweise via E-Mail zu verschicken», sagt Kersten.

Doch sofern es sich nicht um Aussagen von gewählten Politikern handle, würden politische Meinungsäusserungen zu den besonders schützenswerten Personendaten gehören. Ihre Publikation insbesondere im Internet, wo die Aussagen noch nach Jahren von überall in der Welt von jedermann gegoogelt werden könnten, stelle deshalb einen schweren Eingriff dar, sagt Kersten.

Datengraben im Bezirk

Beim Umgang mit den Wortprotokollen zieht sich ein Datengraben durch die Gemeinden. Dies zeigt unter anderem Bergdietikon, das keine Protokolle mehr online zur Verfügung stellt. Auch Künten oder Würenlingen stellen keine Wortprotokolle ins Netz.

Rechtliche Grauzone

Stefan Jung, Präsident des Aargauer Gemeindeschreiberverbandes, sagt: «Die Gemeinden sind sich bewusst, dass sie sich mit der Publikation der Versammlungsprotokolle im Netz in einer rechtlichen Grauzone bewegen.»

Allerdings sei nebst dem Persönlichkeitsschutz auch das Öffentlichkeitsprinzip zu beachten. «Die Stimmbürger haben ein Recht auf die Informationen.» Zudem bestehe die Möglichkeit, die Leute an der Versammlung über die Publikation im Internet zu informieren. «Wenn sich niemand dagegen wehrt, sollte es auch kein Problem darstellen.»

Die Datenschützerin wendet allerdings ein, dass für die Wahrung politischer Rechte eine Publikation der Äusserungen von Stimmbürgern im Internet nicht nötig sei. «Die Protokolle können auch anonymisiert veröffentlicht werden.»

Zudem könne das Wissen um die Veröffentlichung im Internet weniger öffentlichkeitsgewohnte Personen einschüchtern, die sich dann nicht zu Wort melden, gibt Kersten zu bedenken. Um die vorherrschende Diskrepanz zwischen öffentlichem Interesse und dem Datenschutz zu beseitigen, gäbe es nötigenfalls die Möglichkeit, die Namen der Votanten einzuschwärzen.

Allerdings gibt Daniel Huggler, Gemeindeschreiber von Würenlos, zu bedenken: «Es wäre fragwürdig, wenn jemand eine öffentliche Aussage in der Versammlung macht und später plötzlich nicht mehr dazu stehen kann.»

Der Oberrohrdorfer Gemeindeschreiber Thomas Busslinger schüttelt ob den Empfehlungen nur den Kopf: «Öffentliche Aussagen an Gemeindeversammlungen sind doch nicht schützenswert, sonst dürften auch die Zeitungen keine Namen mehr nennen bei der Berichterstattung über Gemeindeversammlungen.» Schliesslich würden diese auch online erscheinen.

Verbandspräsident Jung räumt ein, dass das Einschwärzen der Namen eine Lösung wäre. «Wenn ich aber sehe, was Leute auf Facebook und in anderen sozialen Netzwerken an persönlichen Informationen über sich preisgeben, fände ich es persönlich fragwürdig, wenn sie dann sagen, ‹ich möchte nicht, dass alle wissen, was ich zum Kreditantrag für das neue Schulhaus gesagt habe›.»

Politische Diskussion anregen

Würenloser Gemeindeschreiber Huggler sieht in der Online-Publikation einen grossen Gewinn. «Wir stellen nun seit bald 15 Jahren die Wortprotokolle ins Netz. Das hat die politische Diskussion gefördert.» Die Leute würden sich heute besser informieren können und prüfen, was früher zu einem Geschäft schon gesagt worden sei insbesondere seitens der Behörden.

«Dagegen kam früher kaum jemand in die Gemeindeverwaltung, um ein Protokoll zu lesen.» Man sei sich zwar des Datenschutzes bewusst, aber der Gemeinderat und die Verwaltung stufen in diesem Fall das öffentliche Interesse am politischen und demokratischen Prozess der Meinungsbildung mindestens genau so hoch ein.»

Wie auch andere angefragte Gemeindeschreiber argumentiert Huggler damit, dass die Gemeindeversammlung öffentlich und für jedermann zugänglich ist. «Würden wir die Protokolle nur noch auf der Verwaltung bereit stellen, wäre das ein Rückschritt in die frühen 1990er-Jahre.»

In Spreitenbach, wo die Protokolle der letzten zehn Jahre online verfügbar sind, argumentiert Gemeindeschreiber Jürg Müller: «Gerade bei grossen Bauprojekten zieht sich die politische Diskussion bis zum Abschluss des Projekts mit der Kreditabrechnung über mehrere Jahre hin, weshalb wir auch die Protokolle solange bereitstellen.»

Bei keiner der angefragten Gemeinden hat sich je ein Bürger wegen der online verfügbaren Protokolle beschwert. Auch Stefan Jung beton, seitens Gemeinden seien ihm noch keine Probleme wegen solcher Publikationen im Netz zu Ohren gekommen.

«Im Gegenteil, die Leute wollen immer mehr Informationen online abrufen», sagt Busslinger. Trotzdem geht er wegen der Empfehlungen zum Datenschutz einen Kompromiss ein und stellt nur die Protokolle der letzen zwei, bis drei Versammlungen online.