Turgi
Der neue Schulleiter war einst «Herr der Fussball-Zahlen»

Marius Schneider arbeitete lange für die Fifa. Nach reiflicher Überlegung und Empfehlung seiner Frau entschied er sich, Schulleiter zu werden.

Pirmin Kramer
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Marius Schneider, Schulleiter an der Bezirksschule Turgi, hatte früher fast täglich mit Fifa-Boss Sepp Blatter zu tun.A.Spichale

Marius Schneider, Schulleiter an der Bezirksschule Turgi, hatte früher fast täglich mit Fifa-Boss Sepp Blatter zu tun.A.Spichale

Alex Spichale

Der Kirchdorfer Marius Schneider (52) hat vergangenen Sommer die Schulleitung der Bezirksschule Turgi übernommen und damit einen komplett neuen Berufsweg gewählt – sozusagen einen Haken geschlagen, wie man in der Fussballsprache sagen würde. Denn in den rund zwei Jahrzehnten zuvor war er bei der Fifa tägig, unter anderem als Leiter einer Daten- und Dokumentationsabteilung. Er sorgte mit seinem Team dafür, dass Fussball nicht mehr nur ein Spiel ist, sondern zugleich ein unerschöpfliches wie fantasievolles Reservoir an Fakten und Daten, lobte einst eine deutsche Zeitung.

«Als ich bei der Fifa zu arbeiten begann, wurde nur erfasst, was der Schiedsrichter in seinem Spielbericht festhielt: Aufstellungen, Tore, Karten, Auswechslungen – fertig.» Schneider und sein Team begannen, zu jedem Länderspiel so viele Daten wie möglich zu sammeln, auch die Vergangenheit wurde in Detailarbeit zusammengetragen. So enthält die Fifa-Website zum Teil auch Wissen, das Schneider als «unnütz», aber für Fussballfans als spannend bezeichnet. Zum Beispiel, in welchem WM-Elfmeterschiessen am wenigsten Tore für einen Sieg genügten (der Ukraine reichten gegen die Schweiz an der WM 2006 drei Penalty-Treffer für den Einzug in den Viertelfinal).

Arbeiten in der Fifa-Familie

In den 1990er-Jahren arbeiteten beim Weltfussballverband in Zürich rund 35 Mitarbeiter, die Atmosphäre war familiär. In dieser Zeit hatte Schneider fast täglich mit dem heutigen Fifa-Präsidenten Sepp Blatter zu tun. «Wie kein Zweiter setzt er sich mit Herz, Seele und voller Leidenschaft für den Fussball ein. Gleichzeitig ist er ein Politiker, der mit allen Wassern gewaschen ist.»

Schneider will seine Arbeit für den Weltfussballverband nicht überschätzt wissen, er verstand sich stets als Rohmaterial-Anbieter. Und doch hat er das Spiel mitgeprägt: So überarbeitete er beispielsweise die Fifa-Weltrangliste, anhand derer die Teams vor Auslosungen in verschiedene Töpfe zugeteilt werden. Nach der Jahrtausendwende ermöglichte die Technologie die Erhebung von gigantischen Datenmengen. Aus Schneiders Sicht sind zwei der wichtigsten Erkenntnisse aus detaillierten Auswertungen folgende: «Erstens sind die Spieler unglaublich viel fitter als früher. Das zeigt sich an der Anzahl absolvierter Kilometer, der Anzahl Sprints und deren Geschwindigkeit.» Zweitens habe die von Journalisten und Kommentatoren am wohl häufigsten verwendete Statistik – der Ballbesitzanteil – kaum einen Einfluss auf Sieger und Verlierer eines Spiels. So hatte Deutschland 2002 beim 8:0 gegen Saudi-Arabien – einem der höchsten Siege der WM-Geschichte – mit 53 Prozent nur knapp mehr Ballbesitz als der Gegner.

Akzeptanz in Schule von Beginn an

Schneider spricht zwar noch immer mit Leidenschaft von seiner Zeit bei der Fifa. Doch nach rund 20 Jahren, in denen er sich mit Fussballdetails befasste, kam der Wunsch nach einer neuen Herausforderung auf. Der studierte Anglist und Historiker hatte schon nach der Uni damit geliebäugelt, dereinst im Bildungsbereich tätig zu sein.

Nun entschied er sich nach reiflicher Überlegung und auf Empfehlung seiner Frau, Schulleiter zu werden. Er arbeitet zu 50 Prozent an der Bezirksschule Turgi, einen Tag pro Woche an der Primarschule in Schwaderloch und ist darüber hinaus mit beträchtlichem Aufwand als Kommunikationschef und Trainer im LV Wettingen-Baden aktiv, mit Nachwuchstalenten, die in ihrer leichtathletischen Sparte zu den Besten der Schweiz gehören. Die Akzeptanz beim Team der Bezirksschule Turgi habe er von Beginn an als sehr gut empfunden, obwohl er auf keine klassische pädagogische Laufbahn zurückblicken könne wie andere Schulleiter.

Die Arbeit mache ihm grossen Spass. «Ich muss aber gestehen: Noch ist jeder Tag ganz neu für mich, jeder Tag eine Herausforderung. Ich habe viel mehr mit Menschen zu tun als früher. Jeder Entscheid, den ich hier fälle, jeder Gedanke hat Folgen für irgendjemanden, für einen Schüler oder eine Lehrperson.» Mitgebrachte Managementfähigkeiten und Erfahrungen mit Jugendlichen im Sport sowie als Familienvater kämen auch im neuen Wirkungsfeld stark zum Tragen.

Auch im neuen Job hat die Statistik den «Herrn der Fussball-Zahlen», wie ihn die «Hamburger Post» nannte, nicht ganz losgelassen. Eine Software, die Lehrpersonen und Verwaltung zur Verfügung steht und die zur Erfassung aller möglicher Daten der Schüler dient – Noten, Absenzen, Auffälligkeiten – nutze und verstehe er wohl wie kaum sonst jemand, sagt er und lacht.