Frauenarzt Toni Locher tritt vollends aus seiner ehemaligen Praxis aus – seine humanitäre Arbeit für Eritrea will er fortsetzen.
71 ist ein stattliches Alter für einen Frauenarzt. «Viele hören mit 50 als Geburtshelfer auf, oft ist das ein mühsamer Job», sagt Toni Locher. Tagsüber Praxis, jede zweite Nacht eine Geburt. Ganz so streng ist er nicht mehr mit sich: Vor vier Jahren trat er kürzer. Seine Praxis in Wettingen hat er an eine Nachfolgerin übergeben. Kommendes Jahr will er vollends ausscheiden − wenn auch unter dem Vorbehalt, dass er weiter Vertretungen übernehmen kann. «Ich fühle mich noch zu jung, um ganz aufzuhören», sagt er. Erfahrung verpflichtet.
Locher spricht leise, aber bedacht. Man hört ihm gerne zu, und vielleicht vertrauen ihm Frauen auch genau deswegen. Viele begleitete er von ihrer eigenen Geburt über die Geburt ihres Kinder bis in die Wechseljahre. Mehr als 6000 Babys brachte er mit auf die Welt. Er erzählt von 72-Stunden-Schichten an der Frauenklinik in Winterthur, wo er lange tätig war − so etwas sei heute arbeitsrechtlich gar nicht mehr möglich. «Aber ich konnte so bereits in jungen Jahren sehr viel Erfahrung sammeln.»
Sein Instrumentarium als Geburtshelfer erweiterte er über die Jahre auch auf eher unkonventionelle Weise mit schamanischem Wissen. «Wenn ich bei Frauen Erschöpfung spüre, probiere ich es mit Energieübertragung. Ich kann es auch nicht erklären, aber es hilft. Warum soll ich einen Kaiserschnitt machen, wenn solche Methoden hier und da doch funktionieren?» Wie er das sagt, verraten ihn nicht nur sein grauer Rossschwanz, die knallige rote Brille und die stets weiten, unkrawattierten Hemden als Alt-68er.
Dabei ging bei Lochers eigener Geburt fast alles schief, was schief gehen kann. In Erschmatt, einem abgelegenen Bergdorf im Wallis, war kein Arzt erreichbar. Eine junge, unerfahrene Hebamme zog das Viereinhalb-Kilo-Baby aus der schlanken Mutter, der kleine Toni bekam durch den Griff keine Luft. Schnell wurde er notgetauft − damit das kleine Kind, wenn es schon stirbt, wenigstens in den Himmel kommt. «Aber irgendwie wollte ich doch auf die Welt kommen», sagt Locher. Er überlebte. Und muss aufgrund dieser traumatischen Erfahrung noch heute tief durchatmen, wenn er die Geburt eines schweren Kinds begleitet.
Seine Kindheit wurde keine einfache. Die Mutter erkrankte an Tuberkulose, er sah sie nur selten. Der Vater war streng katholisch, «zu religiös», wie Locher sagt. Mit ihm zerstritt er sich und flüchtete mit zwölf ins St.Galler Rheintal. Da er kein reguläres Gymnasium finanzieren konnte, kam er bei der Missionsgemeinschaft in Widnau unter. Und auch wenn er sich von den Weissen Vätern später abwendete, blieben doch ein gewisser Missionsgeist und die Faszination für den afrikanischen Kontinent bestehen. «Ich wurde dann halt kein Weisser Vater, sondern Weisser Frauenarzt.»
Der katholische Ministrant aus dem tiefsten Wallis kam nämlich mitten in der 68-Bewegung in die «grosse, wilde Stadt» nach Zürich. Er liess sich mitreissen, wollte zunächst Sozial- und Präventivmediziner werden, um den Menschen zu helfen. Auch die postkoloniale Emanzipation in Afrika begeisterte ihn. Für eine Konferenz des christlichen Studenten-Weltbundes landete er Anfang der Siebziger in Äthiopiens Hauptstadt Addis Abeba.
Er suchte den Kontakt zu den Befreiungskämpfern, die ein unabhängiges Eritrea wollten. 1977 kam er auf abenteuerlichen Wegen mitten ins Kriegsgebiet nach Norderitrea. Mehr noch als das politische Bestreben imponierte dem Arzt die Arbeit der Kriegschirurgen: Unter Akaziensträuchern versteckt lag ein unterirdisches Spitalnetz, «das längste Spital der Welt», wie Locher beteuert. Die Verletzten von der Front wurden Tag und Nacht mit geringsten Mitteln operiert. Ein befreundeter Arzt übertönte den Lärm sowjetischer Kampfflieger mit klassischer Musik. «Das hat mir Eindruck gemacht.»
Noch im selben Jahr gründete er das Schweizer Unterstützungskomitee für Eritrea SUKE, das Schulen und Waisenhäuser baut und für saubere Zugänge zu Wasser sorgt. Beruflich hatte es ihn in den Aargau verschlagen. «Wie viele Männer bin ich einer Frau nachgefolgt und in Baden gelandet», scherzt er. «Bloss nicht der Aargau» hatte er sich zwar ursprünglich gedacht, war dann aber von der Liberalität und Offenheit in Baden überrascht. 1984 eröffnete er in Wettingen seine Praxis.
Gleichzeitig hielt er seine guten Beziehungen zur Befreiungsbewegung aufrecht, die mit der Unabhängigkeit Eritreas 1991 die Uniformen gegen Regierungskrawatten wechselte. Seiner Meinung nach sei damit ein «kleiner, sehr egalitärer Staat» entstanden − Afrika, wie er es sich wünscht. Menschenrechtsorganisationen zeichnen ein düsteres Bild, stufen Eritrea als eine Einparteiendiktatur ein, die politisch Verfolgte im Gefängnis foltert. Auf dem Pressefreiheitsindex von Reporter ohne Grenzen liegt Eritrea auf Platz 178, nur Turkmenistan und Nordkorea schneiden schlechter ab.
2002 wurde Toni Locher von ebenjener autoritären Regierung zum Honorarkonsul Eritreas in der Schweiz ernannt. Zwar eine ehrenamtliche und nicht im klassischen Sinne konsularische Tätigkeit. Trotzdem geriet er 2016 medial mitten ins Kreuzfeuer: In der damaligen Asyldebatte − Eritreer stellen seit Jahren die grösste Gruppe von Asylsuchenden in der Schweiz dar − organisierte er eine Reise von Schweizer Politikern nach Eritrea. Unter anderem machte sich die damalige Aargauer Regierungsrätin Susanne Hochuli (Grüne) ein Bild der Bedingungen vor Ort. Die Beziehungen der beiden Länder haben sich seitdem verbessert, Rückkehrmöglichkeiten wurden vereinfacht. Auf diese Vermittlerrolle ist Locher noch heute stolz.
Damals allerdings wurde er hauptsächlich als «Sprachrohr des afrikanischen Nordkoreas» beschimpft, selbst Mitstreiter bezeichneten ihn als zu blauäugig und relativistisch gegenüber der politischen Verfolgung in Eritrea. «Es kann schon sein, dass ich, um meine humanitäre Arbeit nicht aufgeben zu müssen, durchaus schlechte Dinge verdrängt habe», gesteht er heute. Ausblenden also, um nicht aufgeben zu müssen. Dem Arzt war vor allem wichtig, dass Fortschritte im Gesundheitswesen verzeichnet werden können. Und tatsächlich: Die Mütter- und Kindersterblichkeit in Eritrea sank, während die Impfquote gegen Masern stieg. Mittlerweile müsste er nicht mal mehr mit Malaria-Prophylaxe nach Eritrea reisen.
Über die gescheiterte Demokratisierung musste er teilweise hinwegsehen, um Optimist bleiben zu können: «Ich habe die Entstehungsgeschichte dieses Landes mit ihren Aufs und Abs von Anfang an mitverfolgt. Natürlich hätte ich mir auch gewünscht, dass die Demokratisierung schneller geht. Aber in meinem langen Leben habe ich gelernt, dass man unglaublich geduldig bleiben muss.»
Die Geduld wird derzeit durch Sorge getrübt. Denn Anfang November brachen in der Region Tigray in Nordäthiopien blutige Kämpfe aus, die sich zu einem Bürgerkrieg entwickeln könnten. Bei unserem Gespräch war noch unklar, ob sich der Konflikt auf Eritrea ausweitet, mittlerweile wurde auch die Hauptstadt Asmara bombardiert. Somit muss «Dr. Toni», wie er dort auch genannt wird, wohl noch eine Weile warten, bis er wieder nach Eritrea reisen kann. Sein Ziel: Jungen Ärzten beibringen, wie sie mit Ultraschall Brustkrebs erkennen können.