Die Wettingerin Bea Wyler liess einst alles hinter sich, um die jüdische Religion zu studieren. Noch immer ringt sie um Anerkennung.
Schon während der ersten paar Begrüssungssätze wird klar: Diese Frau hat Schalk, Chuzpe, um ein jüdisches Wort zu gebrauchen – bei allem Ernst in ihrem Leben.
Bea Wyler ist die bisher einzige Rabbinerin der Schweiz und hat ihre Position hart erkämpft, doch zunächst einmal sorgt sie für Heiterkeit.
Es ist Freitag, der Tag vor Schabbat, Sonntag für sie. Die 64-Jährige ist frühmorgens von Wettingen angereist, um am Luzerner Fischmarkt Felchen vom Vierwaldstättersee für die abendliche Familienfeier zu kaufen, und erzählt munter von diversen Rezepten, die sie in Ordnern sammle.
Einer trage die Aufschrift «Anleitung zum Selbstmord». Wie bitte? «Was ist es denn anderes, wenn ein Kuchenrezept nebst fünf Eiern und 400 Gramm Patissier-Schokolade auch noch ein halbes Pfund Butter vorgibt – und das Ganze für sechs Personen nach einem Viergänger zum Dessert.»
«Irgendwo zwischen Reformjudentum und Orthodoxie»
Sie kocht gern, lacht gern und vor allem: diskutiert gern. Zu unserem Gespräch in einem Restaurant an der Reuss setzt Bea Wyler die Kippa auf, die gebräuchliche Kopfbedeckung jüdischer Männer beim Gebet. «Ich trage sie stets beim Beten und Lernen. Und jetzt bin ich am Lernen.»
Ihre hellwachen blauen Augen blitzen auf, «jedes Gespräch ist immer ein Geben und Nehmen». Man kann sich Bea Wyler lebhaft vorstellen inmitten der jungen Basler Gemeinde, die sie begleitet.
Beim Gottesdienst mit ihren Gemeindemitgliedern – wenn alle kommen, sind es 60; beim Lehrgespräch montagabends; beim Thora-Unterricht der Mädchen und Buben.
Sie positioniert sich «irgendwo zwischen Reformjudentum und Orthodoxie» und ist als Rabbinerin längst nicht mehr allein: Die allererste Frau im Amt war Regina Jonas 1935 in Berlin; mittlerweile beträgt der Frauenanteil in den Rabbinaten der nicht-orthodoxen Strömungen rund 25 Prozent, und auch orthodoxe Kreise ordinieren heute Frauen.
«Und wie lange hat es danach gedauert, bis Schweizer Ehefrauen ein eigenes Bankkonto eröffnen konnten?»
Bea Wyler aber erlebte als Kind hierzulande noch, wie Frauen dem Gottesdienst nur von der Galerie her folgen durften – «als wären wir Frauen am Berg Sinai nicht dabei gewesen, als uns die Thora gegeben wurde».
Ihr Schmerz ist fühlbar, ihre Kritik an patriarchalen Strukturen gross. «Egal ob jüdisch oder nichtjüdisch: Wir Frauen strampeln und strampeln, und manche bleiben liegen.» Erwähne sie im Ausland, dass Schweizerinnen bis 1971 auf Bundesebene kein Stimm- und Wahlrecht hatten, ernte sie ungläubiges Kopfschütteln.
«Und wie lange hat es danach gedauert, bis Schweizer Ehefrauen ein eigenes Bankkonto eröffnen konnten?» Bea Wyler hält inne. Klar ist: Sie selber blieb nicht liegen.
Die Tochter eines Kaufmanns und einer Hausfrau mit Handelsschulabschluss studierte zunächst Agronomie. «Ich gehöre der 68er-Generation an. Wir glaubten, alles sei machbar, inklusive der Ernährung der Weltbevölkerung dank segensreichen Erfindungen wie Superreis-Hybridsorten.»
Nach Abschluss an der ETH Zürich arbeitete sie für eine Futtermühle, später als Wissenschaftsjournalistin bei der «Basler Zeitung».
Doch es kam anders als gedacht, weltweit wie auch privat. Der Superreis, der viel zu viel Dünger und Pestizide benötigt, ist nicht die Lösung für das Welternährungsproblem. Und in Bea Wylers Leben erfüllte sich die jüdisch geprägte Familienvorstellung nicht – «ich habe zu spät daran gedacht, eigene Kinder zu haben».
Im Rückblick der Hauptgrund, warum sie mit 38 alles hinter sich liess und zunächst in London, später in Jerusalem, New York und Berlin jüdische Theologie studierte.
«Du sollst sie – die Worte der Thora – deinen Kindern beibringen», zitiert Bea Wyler einen Vers aus der Thora, identisch mit den fünf Büchern Mose. «Ein Vers, den ich in meinen Gebeten täglich rezitiere und den ich als Rabbinerin ebenso gut erfüllen kann wie als Mutter.»
Bea Wyler erzählt von glücklichen Jahren. Während des Studiums in New York war sie Teil einer dynamischen, jüdischen Gemeinde weit weg vom Holocaust, der jüdisches Leben in Europa bis heute überschatte. «In New York ist Judentum im Alltag der Stadt selbstverständlich, sogar noch mehr als in Israel. Eine tolle Erfahrung.»
Nach der Ordination 1995 leitete sie im deutschen Oldenburg und Braunschweig ihr erstes Rabbinat. Allen Anfeindungen aus orthodoxen jüdischen Kreisen zum Trotz konnte sie ihre Vorstellungen eines aufgeklärten Judentums umsetzen, schulte Mädchen und Jungen, stärkte Frauen, brachte Männern ihre jüdischen Wurzeln nahe. Einer wurde ihr dabei besonders wichtig: ein sogenannter jüdischer Kontingentsflüchtling aus der Ukraine.
Die Rabbinerin schmunzelt. Längst sind die zwei ein Ehepaar und leben mittlerweile in ihrem Elternhaus in Wettingen. Er arbeitet als Krankenpfleger in einem Altersheim, sie unter anderem auch als Dozentin des Universitäts-Lehrgangs Spirituelle Theologie im interreligiösen Prozess.
Hinter dem sperrigen Titel verbirgt sich eine spannende Ausbildung: Die Teilnehmer erforschen die reiche Tradition christlicher Mystik sowie der vier weiteren Weltreligionen.
Für die Rabbinerin auch dies «eine tolle Erfahrung». Sie doziert über jüdische Feiertage, gemeinsam mit Pater Christian Rutishauser, Provinzial der Schweizer Jesuiten und Judaistik-Spezialist.
«Es ist für uns beide ein natürliches Zusammengehen, eine grosse Bereicherung», sagt Bea Wyler, die bis heute um Anerkennung in jüdischen Kreisen ringt. Mit Wehmut fügt sie an: «Akzeptanz ist viel einfacher möglich, wenn man die andere ist.»