Wettingen
Diese WG ist keine Wohlfühloase: «Wer selbstständig leben will, braucht Klebeband»

Die Therapeutische Wohngemeinschaft unterstützt junge Erwachsene mit psychischen Schwierigkeiten auf dem Weg in die Selbstständigkeit.

Janine Gloor
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Nach dem gemeinsamen Abendessen tauschen sich die Bewohner der Therapeutischen Wohngemeinschaft mit ihrem Betreuer Peter Ernst (2. v. l.) aus. Chris Iseli

Nach dem gemeinsamen Abendessen tauschen sich die Bewohner der Therapeutischen Wohngemeinschaft mit ihrem Betreuer Peter Ernst (2. v. l.) aus. Chris Iseli

Chris Iseli

Aus der Küche ist das Klappern von Geschirr und Töpfen zu hören, ein feiner Duft von Speck und gebackenem Käse breitet sich in der Wohnung aus. Auf den ersten Blick ist es eine WG wie jede andere. Wenn da nicht das Büro von Peter Ernst, Leiter Wohngemeinschaft, und seiner Mitarbeiterin Alexandra Baldinger wäre.

Die Therapeutische Wohngemeinschaft ist für psychisch kranke Menschen zwischen 18 und 24 Jahren bestimmt, zwölf Stunden täglich ist eine Betreuungsperson anwesend. An den Abenden sowie an den Wochenenden müssen die Bewohner ohne Betreuung auskommen, das ist eine der Voraussetzungen für eine Aufnahme.

Die Psychiaterin Ursula Davatz hat die Wohngemeinschaft vor 25 Jahren ins Leben gerufen, Peter Ernst ist seit der ersten Stunde als Betreuer dabei. «Damals wurde die Idee einer WG, die sich stark von den traditionellen Behandlungsmethoden wie einer stationären Therapie unterschied, stark kritisiert und war für viele von Anfang an zum Scheitern verurteilt», erklärt er.

Doch die Wohngruppe scheiterte nicht, im Gegenteil. Zeitgleich mit dem 25-Jahr-Jubiläum wurde die Therapeutische Wohngemeinschaft ein Teil der Stiftung Faro in Windisch.

Gemeinsames Essen ist Pflicht

In zwei verschiedenen Häusern in Wettingen hat es Platz für sieben junge Erwachsenen. In der WG können sie maximal 18 Monate wohnen, dann müssen sie ihre eigenen Wege gehen. «Unser Ziel ist, dass sie so selbstständig wie möglich werden», sagt Ernst. Das beginnt schon im Kleinen. «Wenn jemand zu mir kommt und einen Klebestreifen will, sage ich Nein. Eigentlich wäre es für alle einfacher, wenn ich Ja sagen würde, doch darum geht es hier nicht.»

Wer selbstständig leben will, braucht ein eigenes Klebeband. Eines von Ernsts Grundprinzipien lautet «stören, stören, stören». Die WG ist keine Wohlfühloase. Mit der Hilfe ihrer Betreuer müssen sich die Bewohner mit Situationen auseinandersetzen, denen sie lieber aus dem Weg gehen würden. Die Suche nach einem Job oder einer Lehrstelle bereitet vielen in der WG grosse Sorgen. Ohne den Druck und die Hilfe der Betreuer würden sie die Bewerbung für immer herausschieben.

Jeden Abend treffen sich die Bewohner beider Wohnungen zum gemeinsamen Abendessen. 45 Minuten am Tisch sind Pflicht. An diesem Herbstabend gibt es Kartoffelgratin und Salat, es schmeckt vorzüglich. Die Stimmung am Tisch ist verhalten, neugierig werden die Gäste von der Zeitung beäugt. Jeden Tag muss ein anderer Bewohner das Znacht zubereiten.

Für den ehemaligen WG-Bewohner Stephan war dieses Ämtli anfangs eine grosse Herausforderung. Heute ist es das Kochen und das Zusammensein mit den Mitbewohnern, das er am meisten vermisst. Stephans Diagnose lautet Asperger-Syndrom. Der Übertritt an die Mittelschule machte ihm zu schaffen, es kam zum Abbruch. Sein Arzt machte ihn auf die Wohngemeinschaft aufmerksam, Stephan brauchte ein Jahr, bis er sich zu einer Bewerbung überwinden konnte. «Ich bin sehr froh, dass ich hier war», sagt er und lächelt. «Die Wohngruppe ist ein wichtiger Zwischenschritt zur Selbstständigkeit.» H

eute lebt er mit einem Freund und macht eine Lehre zum Polymechaniker bei BBI Zürich West. Manuela (Name geändert) lebt seit einigen Monaten in der Wohngruppe. Sie sucht eine Lehrstelle auf dem regulären Arbeitsmarkt, doch die Suche gestaltet sich schwer. «Ich wünschte, die Arbeitgeber würden mehr jungen Leuten wie mir eine Chance geben.» Sie ist jedoch überzeugt, dass sie in der Wohngruppe gut aufgehoben ist. «Ich merke, dass man mir hier helfen will.»

Nach dem Essen verschwinden einige Bewohner auf den Balkon, andere machen sich ans Aufräumen der Küche. Wie das in WGs eben so ist.