Amy Bollag ist 1924 an der Bruggerstrasse in Baden geboren. Über seine Erinnerungen an das Leben in der Stadt schreibt er regelmässig in der az. Dieses Mal über den Bruder, der allergisch auf Wespenstiche ist.
Baden, am Ende der Zürcherstrasse, nicht weit vom jüdischen Friedhof. In der naheren Umgebung des Friedhofes befanden sich nur Wiesen, Wald und herrliche Spazierwege.
Später wurde gegenüber der jüdischen Begräbnisstätte ein allgemeiner Friedhof angelegt. Diese wunderschöne Gegend benützten mein jüngster Bruder und ich, um immer wieder Neues zu entdecken. Doch eines Tages veränderte ein Wespenstich alles.
Bis dahin wusste ich nicht, dass mein Bruder Rafael auf Stiche allergisch war. Nun sah ich zu meinem Entsetzen, wie er auf einmal nicht mehr gehen konnte und kurz darauf ohnmächtig wurde.
Ich legte einen flachen Stein unter seinen Kopf und rannte zu den nächsten Häusern. An der ersten Haustüre läutete ich an allen Glocken. Ein älterer Mann öffnete ein Fenster und fragte, was los sei.
So schnell sie konnten, kamen der Mann und seine Frau mit mir zur Stelle, wo mein Bruder lag. Mit grosser Mühe schleppten wir ihn in die Wohnung des alten Paares und betteten ihn auf ein Sofa.
Wie Engel halfen die beiden. Ein Arzt wurde gerufen, Rafael bekam Essig-Umschläge, sie wischten ihm dauernd den Schweiss ab und machten alles, was sie konnten. Bald kam ein Arzt vorbei und gab ihm sofort die rettende Kalziumspritze.
Und endlich öffnete mein Bruder wieder seine Augen und kam wieder zu sich. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich gar nicht gewusst, wer hier so uneigennützig geholfen hatte. Es waren die Grosseltern eines heute berühmten Radio- und Fernsehmannes. Selbstlos hatte das Paar geholfen und nicht darauf geachtet, ob das Sofa oder der Teppich beschmutzt wurden – nur helfen wollten sie.
Etwa ein halbes Jahr später spazierten wir Kinder mit den Eltern auf der oberhalb von Baden gelegenen Anhöhe, Belvedere. Damals gab es dort nur wenige Villen und noch viel grünes und baumbewachsenes Land. Und wieder stach eine Wespe meinen Bruder. Alles lief wieder gleich wie dazumal im Liebenfelser Quartier ab.
Rafi lag ohnmächtig am Wegbord im Gras. Wir schienen Glück zu haben, denn gegenüber lag das Einfamilienhaus eines unserer Bezirksschullehrer. Ich rannte zum Haus, zeigte auf meinen draussen liegenden Bruder und fragte, ob ich bei ihm telefonieren könne, um einen Arzt zu rufen.
Obwohl er sah, dass Vater und Mutter ratlos um ihren am Boden liegenden Sohn standen, fragte er mich, warum ich bei ihm telefonieren wolle. Ich erklärte ihm, dass seine Villa so nahe war, und zudem sei er ja mein Lehrer.
Widerwillig liess er mich in sein Haus. Vor dem Eintreten musste ich noch die Schuhe ausziehen. Er hörte meinem Hilferuf an den Arzt zu, aber niemand kam für die erste Hilfe zu meinem Bruder heraus. Der Arzt kam ziemlich schnell und gab Rafael die dringend notwendige Kalziumspritze, die im Grase genauso half wie das letzte Mal auf dem Sofa.
Aber in jeder Schulstunde bei diesem Lehrer fühlte ich mich wie in der kältesten Winterzeit, auch wenn es Sommer war.