Sexuelle Belästigung
Ein Klient, der mehr als nur Pflege will – für die regionale Spitex ist das kein Einzelfall

Eine Spitex-Pflegefachfrau aus der Region Baden zeigte einen früheren Klienten an, weil er sie sexuell belästigt haben soll. Pro Jahr kommt es zu zwei bis drei solchen Fällen.

Claudia Laube
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Eine Spitex-Pflegefachfrau zeigte einen früheren Klienten wegen sexueller Belästigung an. (Symbolbild)

Eine Spitex-Pflegefachfrau zeigte einen früheren Klienten wegen sexueller Belästigung an. (Symbolbild)

Chris Iseli

Seit sie 2016 bei der Spitex ihre Arbeit aufgenommen hat, ging die Pflegefachfrau Melanie (alle Namen geändert) zu Harun nach Hause. Die 52-Jährige half ihm mit den Stützstrumpfhosen, cremte seine Beine ein, machte die Medikamente für die nächste Woche bereit und ging danach zu anderen Klienten.

Im Jahr 2017 sah sie sich laut Strafbefehl mit drei sexuell motivierten Übergriffen konfrontiert, weshalb die beiden letzte Woche vor Bezirksgericht Baden wieder aufeinandertrafen. Der 70-jährige Harun hatte den ihm zugestellten Strafbefehl von 1000 Franken nicht akzeptiert und Einsprache erhoben.

Er bestreitet die Vorwürfe, die seine ehemalige Betreuerin zur Anzeige brachte: Demnach soll er zweimal versucht haben, Melanie ins Bett zu zerren und sein Glied an ihr zu reiben. Sie habe sich jedoch beide Male lösen können und gesagt, dass das nicht zu ihren Aufgaben gehöre.

Daraufhin habe er damit gedroht, sich umzubringen, wenn sie jemandem davon erzähle. Nach dem ersten Mal dachte Melanie, sie sei in irgendeiner Form selbst daran schuld. Und da sie ein gewisses Verständnis für seine Situation hatte, habe sie niemandem davon erzählt: «Er war ja so viel alleine», sagte Melanie vor Gerichtspräsidentin Gabriella Fehr.

Sie hegte die Hoffnung, dass es eine Ausnahme war. Trotzdem habe sie Haruns Name in den internen Pflegeberichten nachgeschaut und entdeckt, dass es mit ihm schon in der Vergangenheit einen Vorfall gegeben habe. Ausser einem Gesprächstermin sei dazu aber nichts weiter eingetragen gewesen.

Wenige Wochen später war sie wieder bei Harun eingeteilt. «Ich hatte Angst, dass noch einmal etwas passieren würde», sagte sie aus. Diesmal habe er versucht, sie zu umarmen und an den Hüften und Brüsten zu berühren. Wiederum habe sie bekräftigt, dass sie nicht dafür zur Verfügung stehe und konnte sich von ihm lösen.

Nur: Sie meldete den Vorfall wieder nicht. Warum, das kann sie heute, zwei Jahre später, nicht mehr sagen: «Ich weiss, ich hätte es da melden müssen», sagte sie. Nach dem dritten Vorfall erzählte sie es ihrem Chef beim täglichen Rapport. Dieser riet ihr, Harun anzuzeigen. Ausserdem stellte die Spitex die Pflegeleistungen per sofort ein.

Beschuldigter wehrt sich

Der Iraker Harun, er trug vor Gericht das weisse Gewand, das traditionell in Wüstenregionen getragen wird, wehrte sich gegen die Vorwürfe. Sein Deutsch ist schlecht, dementsprechend holprig lief die Befragung durch Gerichtspräsidentin Fehr, trotz Dolmetschers.

Er habe gewusst, dass ihm diese Frau eines Tages Probleme bereiten würde, man habe ihm im Vorfeld angeraten, sie anzuzeigen, sagte er. «Sie hat keinen Respekt vor Moslems.» Die Initiative sei jedes Mal von Melanie ausgegangen, sie habe ihn aufs Bett gestossen und ihm befohlen, sich nackt auszuziehen: «Ich hatte Angst vor ihr», erklärte er der Richterin.

Sie sei mit ihren Schuhen auf seinem Gebetsteppich herumgetrampelt. «Deshalb hatten Sie Angst vor ihr? Als ehemaliger Offizier?», wollte es Richterin Fehr genauer wissen. Harun arbeitete im Irak, bevor er vor 20 Jahren in die Schweiz geflüchtet ist, als Offizier am Gericht. «Ich vermeide Frauen», antwortete dieser, er habe schon immer Angst vor ihnen gehabt. «Sie sind gefährlich», übersetzte der Dolmetscher.

Nach den Zeugenaussagen zog sich Harun mit seinem Verteidiger und seinem Beistand zur Besprechung zurück. Sie entschieden, die Einsprache wieder zurückzuziehen und den Strafbefehl in Rechtskraft erwachsen zu lassen. Damit bekannte er sich zwar schuldig, bestritt aber weiterhin seine Schuld: «Ich verlange nun Gerechtigkeit von Gott.»

Spitex-Mitarbeitende zwischen Nähe und Distanz

Der Fall wirft die Frage auf, wie stark sich Pflegefachpersonen der Spitex in der Region übergriffigem Verhalten ausgesetzt sehen. Bei der Spitex Limmat Aare Reuss (LAR) gehöre das zwar nicht zum Alltag, «aber wir sind doch zwei- bis dreimal pro Jahr mit übergriffigen Klienten konfrontiert», sagt Gordana Kempter, Leiterin Kerndienst bei der im Juli 2019 zusammengeschlossenen Spitex LAR.

Die neue Organisation besteht aus den früheren Spitex-Vereinen Baden, Ennetbaden, Gebenstorf, Obersiggenthal, Turgi, Untersiggenthal und Würenlingen und betreut aktuell über 750 Klienten.

«Meistens endet es aber nicht vor Gericht wie in diesem Fall», so Kempter. Die Mitarbeitenden seien angehalten, solche Vorfälle sofort zu melden, damit man sie in einem ersten Schritt von den übergriffigen Klienten abziehen kann: «Inzwischen haben wir glücklicherweise auch männliche Pflegefachpersonen im Einsatz», bekräftigt sie.

Unsere Pflegefachpersonen müssen einfühlsam und freundlich mit den Leuten umgehen, aber trotzdem Distanz wahren.

(Quelle: Gordana Kempter, Spitex LAR, Leiterin Kerndienst)

Das sei vor ein paar Jahren schon fast ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Nicht zu vergessen: «Auch Frauen können übergriffig werden», sagt Kempter. Sexualität und Intimität im Alter seien ein wichtiger, nicht zu unterschätzender Punkt.

Als zweiten Schritt suche man deshalb das Gespräch mit Klienten und Angehörigen oder Beiständen und versuche, die Personen an die richtigen Stellen zu verweisen, wo das Bedürfnis nach Nähe gestillt werden und so die Spitex trotzdem weiterhin vorbeigehen könne.

Dann gäbe es aber auch Fälle, bei denen die Betreuung eingestellt werden muss, wenn die Klienten keine Einsicht zeigen – so auch bei einem Fall, der sich vor kurzem ereignet hatte: «Ein Klient ist bei einer Spitex-Mitarbeiterin zu Hause aufgetaucht und sogar in ihre Wohnung eingedrungen. Sie musste sich im Bad verstecken und die Polizei rufen.» Vielen sei aber gar nicht erst bewusst, dass sie eine Bedrohung darstellen, ergänzt Kempter.

Der Job bei der Spitex sei eine Gratwanderung, gerade weil sie zu den Menschen nach Hause gehen. Über Monate baue sich ein Vertrauensverhältnis auf: «Man muss einfühlsam und freundlich mit den Leuten umgehen, aber trotzdem Distanz wahren», sagt Kempter. Sie selbst ist seit 31 Jahren Pflegefachfrau, seit 19 Jahren bei der Spitex

In ihrer Ausbildung sei dieses Thema noch stiefmütterlich behandelt worden, heute lernen die Auszubildenden, wie sie reagieren müssen. Sie kenne aber keine Pflegefachpersonen, die nicht in irgendeiner Weise von übergriffigem Verhalten betroffen gewesen seien. Auch sie habe die Erfahrung gemacht: «Das gehört zum Beruf.»