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Im Prozess um den 2-jährigen Buben, der 2014 misshandelt und zu Tode geschüttelt wurde, stand am Mittwoch der beschuldigte Stiefvater vor Gericht. Der 40-Jährige gesteht, den Jungen durch Schütteln getötet zu haben. Für die schweren Verletzungen in den Monaten davor will er nicht verantwortlich sein.
In Karohemd und Jeans sitzt Robert*, 40, Lagerist und Berufsbildner, am Mittwochmorgen im Bezirksgericht Baden. Die Hände hat er sich auf die Beine gelegt. Regungslos hört er zu, wie sein psychiatrischer Gutachter die Fragen von Gerichtspräsidentin Gabriella Fehr beantwortet. Ein einziges Mal konnte der Forensiker Robert befragen, während rund dreier Stunden in der Untersuchungshaft. Wenige Tage nachdem Michael* in der Wohnung von Robert und seiner damaligen Lebenspartnerin Stefanie* im Bezirk Baden ums Leben gebracht worden war.
Danach teilte Roberts Anwalt mit, sein Klient erteile keine weiteren Auskünfte. Die Staatsanwaltschaft wies den Psychiater an, das Gutachten so fertigzustellen. «Der Informationsstand war knapp, aber ausreichend», sagt der Gutachter. Er habe den Eindruck erhalten, dass Robert auf Belastungen nur eingeschränkt reagieren könne: «Durch Flucht oder mit Aggressivität.» Es gebe zwar eine leichte narzisstische Akzentuierung, aber keine manifeste Persönlichkeitsstörung. Robert sei voll schuldfähig.
Als zweite Zeugin wird die Ärztin des Zürcher Instituts für Rechtsmedizin, die Michaels Leichnam obduziert hatte, befragt. Sie fand nicht nur die typischen Verletzungen eines Schleudertraumas, sondern auch weitere Blutergüsse, unter anderem an den Genitalien. Einblutungen im Dünndarm, Quetschungen an der Lendenwirbelsäule, Stauchungsbrüche an Brustwirbelkörpern.
Ihre Befunde lassen keinen Zweifel daran, dass die Theorie von Mutter und Stiefvater, Michael habe sich die Verletzungen selbst zugefügt oder unfallmässig erlitten, falsch ist. «Die Unterblutungen waren an Stellen, die man sich nicht durch Stürze erklären kann», sagt die Rechtsmedizinerin. Und: Ein einfaches, kurzes Schütteln hätte nicht zum Tod geführt: «Es muss länger als zehn Sekunden und in einer Frequenz von bis zu 30-mal gewesen sein», so die Fachärztin.
Jetzt wird Robert aufgeboten. Es gehe ihm «nicht gut», sagt er. Vor wenigen Wochen habe er seine Stelle gekündigt: «Ich konnte mich nicht mehr konzentrieren.» Er befinde sich in Behandlung bei einer Psychiaterin, einer Seelsorgerin und einer Nonne. Als 10-Jähriger war er selber zu einem Stiefvater gekommen. Ab und zu habe es Ohrfeigen abgesetzt, aber sexuelle Übergriffe habe es nie gegeben. Dies hatte seine Ex-Partnerin am Dienstag ausgesagt.
Er habe sich sehr gefreut, als er 2014 mit Stefanie zusammenziehen konnte und sie einen Sohn hatte. «Ich habe uns als kleine Familie gesehen und war sehr stolz.» Die ständigen Verletzungen Michaels seien von Anfang an Thema gewesen: «Ich hatte Angst, weil es immer wieder blaue Flecken gab.» Wie es dazu kam, ist Robert in den meisten der protokollierten 20 Fälle schleierhaft.
Auf Detailfragen von Gerichtspräsidentin Fehr antwortet er mit «das sagt mir jetzt nichts», «kann ich mir nicht erklären» oder «kann mich nicht erinnern, das ist zu lange her.» Er beteuert: «Das habe ich ihm alles nicht angetan. Der einzige Vorfall war das Schütteln.» Spricht er über den Todestag von Michael, beginnt Robert zu schluchzen. Die Mutter ging kurz aus der Wohnung, um den Abfall hinauszubringen.
Sie legte Michael zum schlafenden Stiefvater ins Bett. Der Bub begann zu weinen. «Ich wollte ihn beruhigen, aber er begann, immer mehr zu weinen und zu schreien», schildert Robert verzweifelt. «Ich stand auf. Habe ihn von meinem Körper weggehalten und geschüttelt. Ich habe die Beherrschung verloren. Es ist im Moment passiert.» Tränen übermannen ihn. Nach einer kurzen Pause dreht er sich zu den Angehörigen um: «Ich ha das nie welle, es tuet mir so leid!» Er sei überfordert und übermüdet gewesen. Auf Nachfrage des Anwalts von Mutter Stefanie gibt er wieder keine Auskunft mehr: «Dazu sage ich nichts.» Im letzten Wort betont er, er leide «massivst» unter Michaels Tod und wehre sich vehement gegen die Vorwürfe der Staatsanwältin.
Für die Staatsanwältin ist klar: «Der Tod war trauriger Höhepunkt monatelanger Misshandlungen.» Es bestehe kein Zweifel daran, dass Robert der Täter sei. Die Verletzungen seien erst aufgetreten, als Robert mit Stefanie in eine Beziehung ging. Er habe die Blutergüsse, Schnitt- oder Brandwunden entdeckt und jeweils via Whatsapp Fotos an die Mutter geschickt.
Seine Aussagen in verschiedenen Befragungen widersprächen sich, seien deshalb nicht glaubhaft. Sie fordert 13 Jahre Gefängnis. Mit ihr einig ist der Anwalt des leiblichen Vaters, der als Kläger auftritt. Robert habe aus einem niederträchtigen Grund getötet: «Der Kleine störte ihn beim Schlafen und wurde dafür sinnlos aus dem Leben gerissen.»
Der Vater will Schadenersatz und eine Genugtuung über 70'000 Franken. Auch die Mutter, die selber angeklagt ist, erhebt Vorwürfe gegen Robert und tritt zusätzlich als Klägerin auf. Ihr Anwalt sagt, Robert sei ein «Meister im Verschleiern», habe den wehrlosen, bereits von den Misshandlungen stark geschwächten Stiefsohn kaltblütig und auf skrupellose Weise getötet. Während die Staatsanwaltschaft eine Verurteilung wegen vorsätzlicher Tötung und mehrfacher einfacher Körperverletzung fordert, plädiert Stefanies Anwalt sogar auf Mord.
Roberts Verteidiger stellt dagegen das gesamte Verfahren infrage. Ohne Frage handle es sich um eine Tragödie. Doch nur weil Robert das Schütteln zugegeben habe, könne man ihn nicht für alle anderen Verletzungen verantwortlich machen. Seine Kritik: Die Ermittlungen seien nicht objektiv erfolgt, man habe nur Robert, nicht aber Stefanie psychiatrisch begutachtet, die Nachbarschaft nie befragt.
«Den Tod wollte er in keiner Weise. Bewiesen ist nur das Schütteln, der Rest bleibt unklar.» Die Staatsanwältin habe «mit der Schrotflinte geschossen», jeden denkbaren Bluterguss aufgelistet. Die Zuordnung der Verletzungen zu seinem Klienten sei willkürlich. Zudem dürfe man von Robert nicht zu viel verlangen: Er sei unerfahren mit Kindern und von eher eingeschränktem Intellekt. «Er steht aber zu seinem Fehler und zeigt Reue.» Der Verteidiger fordert eine Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung und eine bedingte Freiheitsstrafe von 20 Monaten.
Die Urteile fällt das Bezirksgericht Baden nächste Woche.
* alle Namen geändert