Prozess
Erst den Versicherer, dann die Zeitung vor Gericht gebracht

Die Eltern eines behinderten Kindes wenden sich im Kampf gegen eine Versicherung an eine Zeitung. Dann machen sie einen Rückzieher, der Artikel erscheint trotzdem – zu Unrecht?

Manuel Bühlmann
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Walter Schwager

Der Kampf gegen die Versicherung zieht sich über Jahre hin. Die Folgen folgenschwerer Fehler einer Hebamme.

Während der Hausgeburt treten Komplikationen auf, die Verlegung ins Spital wird zu spät eingeleitet, das Kind kommt schwer behindert zur Welt. Die Hebamme wird wegen fahrlässiger schwerer Körperverletzung verurteilt.

Ein Fall für deren Haftpflichtversicherung, doch die weigert sich, zu bezahlen. Mutter und Vater kämpfen jahrelang um das Geld von der Versicherung.

Auch nach dem Urteil geht der Kampf weiter, der Konzern hat die Prozesskosten von der bezahlten Summe abgezogen – «das ist ein Skandal», sagt die Mutter.

In zwei Artikeln berichtet ein Zürcher Medienhaus über den Fall; die Eltern hatten sich mit ihrer Geschichte bei einem Journalisten gemeldet. Jahre später treffen sich beide Seiten vor dem Bezirksgericht Baden wieder.

Der Grund: Die Eltern klagen wegen Persönlichkeitsverletzung, verlangen eine finanzielle Entschädigung.

Dabei verlief die Zusammenarbeit zu Beginn problemlos. Die Eltern sprechen über den Fall, geben Einblick in die Akten.

Ihr Ziel: «Die dreckige Praxis» der Versicherung publik machen – kein Einzelfall, wie sie betonen.

Streit um den Millionenbetrag

Doch die Probleme beginnen, nachdem der Artikel geschrieben ist. Hauptstreitpunkt: Darf die Summe im Text genannt werden, welche die Versicherung der Familie nach jahrelangem Rechtsstreit doch noch ausbezahlen musste? Nein, finden die Eltern. Ja, findet der Journalist.

«Wir sind uns nicht einig geworden», sagt Letzterer vor dem Bezirksgericht. Für ihn stand fest: «Den Betrag zu unterschlagen, geht nicht. Damit hätten wir unsere Glaubwürdigkeit aufs Spiel gesetzt.»

Die Versicherung hätte die Höhe des ausbezahlten Betrags ansonsten ohnehin publik gemacht – er befürchtete in diesem Fall «ein journalistisches Debakel».

Zahlreiche Mails wurden hin und her geschickt, doch eine Einigung war nicht in Sicht. «Mir war klar, dass wir keinen gemeinsamen Weg finden werden», sagt der Journalist.

Die Eltern ziehen die Konsequenzen: Sie verlangen die Unterlagen zurück, gehen davon aus, dass der Artikel nicht erscheinen würde. Doch das Medienhaus entscheidet, die Geschichte dennoch anonymisiert abzudrucken.

«Ich bin aus allen Wolken gefallen, als einige Wochen später mein Leben in der Zeitung zu lesen war», sagt die Mutter vor Gericht.

Besonders gestört hat die Eltern, dass der von der Versicherung ausbezahlte Millionenbetrag mehrmals erwähnt wird – insgesamt 13 Mal, wie der Vater vor Gericht festhält.

Wie zum Beweis hält er die Frontseite der betreffenden Ausgabe sowie eine Kopie der Artikel in die Höhe.

Die Reaktionen auf die Zeitungsberichte seien postwendend gekommen. Trotz Anonymisierung seien sie von der halben Nachbarschaft erkannt und darauf angesprochen worden.

Dabei, betont die Mutter vor Gericht, brauche sie keine Öffentlichkeit. «Ich wollte nicht unser Schicksal ausschlachten – auf keinen Fall.»

Der Schritt an die Öffentlichkeit

Nun, neun Monate später, ist das Urteil des Badener Bezirksgerichts schriftlich eröffnet worden: Die Klage wegen Persönlichkeitsverletzung wird abgewiesen. «Der Artikel ist nicht persönlichkeitsverletzend», sagt Gerichtsschreiber Simon Bisegger.

Die Begründung: Wer die Familie nicht kenne, könne auch nicht herausfinden, um wen es sich handle. Und alle anderen hätten ausser der Höhe der ausbezahlten Summe nichts Neues erfahren.

Bisegger: «Doch wenn eine Haftpflichtversicherung in einem Fall dieser Grössenordnung zahlt, ist allen klar, dass es sich um einen Betrag in Millionenhöhe handeln muss.»

Dazu kommt: Die Eltern haben ursprünglich in die Veröffentlichung der Geschichte eingewilligt.

«Der Schritt an die Öffentlichkeit ist bereits erfolgt, indem sie sich an den Journalisten gewandt haben. Nur weil sie mit dem Entwurf des Artikels nicht einverstanden waren, bedeutet das nicht, dass sie alles einfach zurückziehen können», sagt Gerichtsschreiber Simon Bisegger.

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, die Eltern können dieses ans Obergericht weiterziehen.