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Die Ehrendinger Psychotherapeutin Ruth Huggenberger erklärt die Krankheit ADHS und sagt, welche Methoden den Patienten helfen können, die Weihnachtszeit gut zu überstehen.
«Die Aufmerksamkeitsdefizit- Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS, betrifft längst nicht nur Kinder, sondern auch Menschen im Erwachsenenalter», erklärt Psychologin und Psychotherapeutin Ruth Huggenberger aus Ehrendingen. Sie hat sich in ihrer Gemeinschaftspraxis in Baden auf ADHS-Patienten und deren Folgeerscheinungen spezialisiert. Was bei Kindern im Volksmund als «Zappelphilipp-Syndrom» bezeichnet wird, kann sich im Erwachsenenalter vor allem bei nicht diagnostizierter ADHS zu Depressionen, Angstzuständen, Suchtproblemen, Delinquenz, Zwängen und Persönlichkeitsstörungen entwickeln.
Huggenberger präsentiert in ihrem Buch «ADHS in der Familie» zahlreiche Fallbeispiele, wie sich die Störung bis ins reife Erwachsenenalter auswirken kann und empfiehlt entsprechende Lösungsansätze. «Bei ADHS- Kindern ist ein liebevoller, aber konsequenter Umgang essenziell, und auch im Erwachsenenalter sind Regeln und Strukturen wichtig», meint die Expertin. Um eine eindeutige Diagnose zu stellen, braucht es eine fundierte Abklärung mit einer ausführlichen Anamnese und spezifischen Tests (Wahrnehmung, Konzentration, Interviews und so weiter).
Seit der zweiten Coronawelle wird sie mehr frequentiert denn je. «Wir sitzen zwar alle im selben Boot, aber Menschen mit ADHS leiden besonders unter der momentanen Situation», sagt die 55-Jährige. «Viele Betroffene wurden in ihrer Kindheit eingeschränkt. Jetzt fühlen sie sich erneut fremdbestimmt, je länger die Bestimmungen und Vorschriften andauern.» Ängste und Überforderung im beruflichen und/oder privaten Umfeld können die Folge davon sein. Zum Beispiel vermehrte Streitigkeiten in der Partnerschaft und Familie. «Auch der Alkohol- und Cannabiskonsum erhöhten sich während der Coronazeit. Zwei Patienten sind gar in die Alkoholsucht abgerutscht», sagt Huggenberger. Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene seien mit dem Homeschooling überfordert. Denn: «Menschen mit ADHS brauchen ein Gegenüber und können sich auf einer rein virtuellen Plattform schlecht konzentrieren.»
Jeder Fall ist individuell. Erleichterung bringen laut der Psychologin manchmal frappant einfache, aber nicht immer sofort umsetzbare Dinge. Beispielsweise: mehr Zeitfenster für sich selber kreieren zur Entschleunigung oder um Sport zu treiben, um die Hyperaktivität zu minimieren. «Zudem sind ADHS-Patienten oft Nachteulen. Wenn sie deswegen tagsüber nicht mehr funktionieren können, muss etwas am Tagesablauf geändert werden.»
Die meisten Betroffenen kommen durch Mundpropaganda oder nach Konsultation ihrer Website zu ihr. «Aber auch aufgrund der Beispiele in meinem Buch haben sich ganz viele Leserinnen und Leser wiedererkannt. Sie hatten plötzlich Verständnis für Reaktionen und Prozesse in ihrem Umfeld. Vor allem wurde ihnen bewusst: Sie sind mit ihrer Problematik nicht alleine», sagt Huggenberger. Aufgrund der positiven Feedbacks schreibt sie bereits ein zweites Buch zum Thema ADHS.
Wegen Corona gibt auch sie seit März 2020 sämtliche ihrer Weiterbildungskurse online und plant, diese auch im Frühjahr 2021 weiterzuführen. «Ich bin keine Prophetin, befürchte aber, dass sich nach Weihnachten und Silvester die Fallzahlen noch erhöhen werden», bekundet sie und hofft auf einen Impfstoff bis im Sommer. «Gehen diese dann zurück, kommt es darauf an, wie wir uns als Gesellschaft verhalten und die Verantwortung für das Kollektiv übernehmen.»
Die Palette der Symptome bei der Aufmerksamkeitsdefizitstörung ist vielfältig; sie treten nicht bei allen Betroffenen in gleichem Masse in Erscheinung. Die Kardinalskriterien liegen in den Bereichen «Unaufmerksamkeit», «Impulsivität», «Hyper- oder Hypoaktivität». Im Laufe des Lebens verändern sich die Symptome. Folgeerscheinungen bei Kindern und Jugendlichen treten vor allem in den Bereichen der schulischen, sozialen beziehungsweise emotionalen Funktionsfähigkeit auf.
Bei Erwachsenen treffen wir häufig auf Komorbiditäten wie affektive Störungen und Zwänge, Sucht, Delinquenz und Persönlichkeitsstörungen. ADHS ist gemäss dem heutigen Forschungsstand mit hoher Wahrscheinlichkeit eine überwiegend genetisch bedingte Störung (70 bis 80 Prozent). Die Ursachen sind zu einem Grossteil neurophysiologischer Natur (Ungleichgewicht der Botenstoffe Dopamin und Noradrenalin). Dadurch entsteht eine fehlerhafte Informationsübertragung und -verarbeitung zwischen bestimmten Hirnabschnitten, welche unter anderem für Wahrnehmung, Antrieb, Selbststeuerung, Konzentration und Impulskontrolle zuständig sind. (ubu)