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Baden
Juraj Lipscher hat während Jahrzehnten an der Kantonsschule Baden Chemie unterrichtet. Vor 50 Jahren floh er in die Schweiz.
In 32 Jahren an der Kantonsschule Baden hat er Generationen von Badener Schülern in Chemie unterrichtet. Seit vier Jahren ist Juraj Lipscher pensioniert. Doch zur Ruhe gekommen ist der gebürtige Tschechoslowake noch lange nicht. Der Weg zu Juraj Lipschers Zuhause führt aus der Stadt hinaus ins ruhige Rupperswil. Auf dem Weg vom Bahnhof ins Unterdorf begegnen uns keine Autos, nur eine Frau auf einem Pferd, ein zweites neben sich herführend. Kurz vor der alten Spinnerei aus dem Jahr 1837 überqueren wir eine kleine Holzbrücke. Auf dem Wasser treiben zwei weisse Schwäne langsam auf uns zu. Es ist eine andere Zeitlichkeit, die hier draussen herrscht.
Im fünften Stock des historischen Industriehauses empfängt uns Juraj Lipscher mit freundlichem Händedruck und führt in sein Loft. Die Einrichtung des grossen Wohnbereichs ist stilvoll, an vielen Wänden hängen Bilder und aus den Fenstern der Dachschrägen fällt das einzige Licht in den Raum. Aus der offenen Küche erscheint seine Frau Hedi und bringt, sobald wir sitzen, Kaffee und selbst gemachten Kuchen. Die beiden erwachsenen Töchter sind längst aus dem Haus.
32 Jahre war Juraj Lipscher als Lehrer an der Kanti Baden, 20 Jahre an der ETH Zürich in der Ausbildung der angehenden Lehrkräfte tätig; als Forschender publizierte er unter anderem zu den Themen «Chemie und Verbrechen», zu «Chemie und Kunst» und «Licht und Farbigkeit». Lipscher war bei den meisten Kantischülern ein sehr beliebter Lehrer. Er verstand es, chemische Prozesse in Geschichten zu betten. So erzählte er zum Beispiel vom Skandal mit gepanschtem Alkohol in der Türkei und erklärte dann aus chemischer Perspektive, weshalb eine Methanol-Vergiftung tödlich sein kann. Es war und ist kein Geheimnis, dass Lipscher Mitglied bei Scientology ist. Im Unterricht hat man davon nie etwas gemerkt. Er schildert, wie ihm zu Beginn seiner Karriere die Kurse im Bereich Kommunikation und zwischenmenschliche Beziehungen, Lerntechnik und andere Fähigkeiten im geistigen Bereich geholfen haben, kompetenter zu kommunizieren und zu lehren.
Seit vier Jahren ist Lipscher nun pensioniert. Auch wenn ihm die Pension leichter gefallen ist als gedacht, wie er sagt, ist er nicht zur Ruhe gekommen. Noch immer arbeitet er ein Mal in der Woche an der ETH, schreibt und nimmt Eidgenössische Maturaprüfungen ab. Und schliesslich ist da noch die Fotografie: Ein Hobby, das Lipscher zeitlebens gepflegt hat – und das äusserst erfolgreich. Seit 2001 wurden seine Bilder in der Schweiz, der Slowakei und der Tschechischen Republik sowie in Frankreich und in New York ausgestellt.
Die grösste Aufmerksamkeit erreichte er mit der Serie «Body Shops», an der er während zehn Jahre gearbeitet hat. Das Projekt zeigt Räumlichkeiten, die sich alle dem menschlichen Körper widmen: vom Gebärsaal über das Fitnessstudio, der Schönheitsklinik und dem Bordell bis hin zum Krematorium bilden sie so etwas wie ein Gesamtbild des Lebens «du premier cri jusqu’au dernier cri» ab. Das Interesse an diesen Räumen, die gleichsam Produkt wie Vorrichtung menschlichen Handelns sind, war für Lipscher zunächst einmal ein genuin Menschliches: «Das Interesse am Körper ist universell. Freilich sind diese Motive äusserst heikel. Das Klischee und billige Emotionen lauern in solchen Räumen überall», erklärt Lipscher. «Ich habe versucht, diese Räume fotografisch mit möglichst viel Abstand zu betreten.»
Als Chemiker mischte er sich zu diesem Zweck spezielle Entwickler. Eher kühl und distanziert kommen Lipschers Fotos deshalb daher: Aufs Wesentliche reduziert durchbrechen die Bilder eine Selbstverständlichkeit, eine Alltäglichkeit und fördern etwas anderes ans Tageslicht. Mit Lipschers Bildern blicken wir auf diese Räume mit Verwunderung, aber auch mit einer Art Befremdung.
Als «Body Shops» in Buchform publiziert und von Kuratoren und Kunstkritikern besprochen wurde, ist auch Lipscher erstmals bewusst geworden, wie stark die Serie eine ethnografische und auch eine schweizerische Dimension aufweist. Lipschers Fotografien haben eine sachliche Distanz im Umgang mit dem Körper, dem Leben und dem Tod. «Solche Räume sehen überall anders aus. Nirgends sonst wird in Krematorien zum Beispiel so peinlich genau darauf geachtet, dass kein Gramm Asche eines anderen Vorfahren in die Urne eines bestimmten Verstorbenen gelangt.»
Wenn Juraj Lipscher mit seiner tiefen, sonoren Stimme erzählt, so tut er das wie jemand, der sich gewohnt ist, vor Leuten zu sprechen. Sein Schweizerdeutsch ist fehlerlos, doch etwas an seiner Aussprache verrät, dass es nicht seine Muttersprache ist. Geboren wurde Juraj Lipscher 1948 in Prag. Vor genau 50 Jahren, im Jahr 1968, flüchten seine Eltern mit ihm und seinem Bruder aus der damaligen Tschechoslowakei. Der «Prager Frühling» hält gerade mit all seinen demokratischen Versprechen Einzug, und für Juraj, damals ein knapp 20-jähriger Student, ist es eine aufregende Zeit.
«Die kulturelle Öffnung im Januar 1968 brachte einen Reichtum an Literatur und Filmen mit sich. Mit etwas Verspätung, aber grosser Begeisterung lasen wir die Autoren der amerikanischen Beatnik-Generation, reisten per Autostopp durch die Slowakei, organisierten Happenings und demonstrierten auf der Strasse», erzählt Lipscher. Als am 21. August 1968 die Truppen des Warschauer Paktes einmarschieren und den «Sozialismus mit menschlichem Antlitz» gewaltsam niederschlagen, entscheiden sich Jurajs Eltern für die Flucht.
Für eine lange Zeit sind Lipschers Erinnerungen an die Heimat von Nostalgie geprägt. Ein Zurück gab es nicht. Erst 22 Jahre später, als der Eiserne Vorhang gefallen ist, kann Juraj das erste Mal wieder in die alte Heimat reisen – und ist ernüchtert. «Erst dann habe ich realisiert, dass das Bild, das ich von meiner Heimat in mir getragen habe, so nicht mehr existiert. Meine Freunde, mit denen ich per Autostopp durch die Slowakei gereist war, arbeiteten nun, hatten Familie und hatten gelitten unter dem System», erzählt Lipscher.
Die Erfahrung der Entwurzelung gehört zu Juraj Lipschers Biografie und hat Einfluss gefunden in sein künstlerisches Schaffen. Seine Bilder zeugen von einer analytischen Schärfe, die sich aus eben jenem externen Blick ergeben – dem «Blick des Fremden, der ich eigentlich bin in diesem Land».