*Amy Bollag ist 1924 in Baden geboren. Über seine Erinnerungen an das Leben in der Stadt schreibt er regelmässig in der Schweiz am Wochenende.
Mein lieber Vater selig machte mich darauf aufmerksam, dass, wenn einer sage, er sei ein Badener, dies nicht stimme. Ein echter Badener nenne sich Bademer. Schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zog mein Urgrossvater mit der Familie von Endingen, wo die Bollags seit Mitte des 17. Jahrhunderts gewohnt hatten, nach Baden. Aber Bademer sind wir sonderbarerweise nie geworden, obwohl Deutsche und Italiener, die viel später kamen, längst diesen Status hatten.
Nun zu unseren Geschichten: Fräulein Spengler, unsere Lehrerin der ersten Klasse im Jahre 1931, war lieb und verständnisvoll. Es kam einmal vor, dass wir auf dem Schulhausplatz turnten. Am Platz vorbei führt die breite, etwas ansteigende Strasse, Richtung Zürich und Mellingen. Zu jener Zeit waren noch wenige Motorfahrzeuge unterwegs, und es gab noch viele Pferdefuhrwerke. Da die Strasse doch recht anstieg, hatten viele Gespanne Mühe, ihre Last zu schleppen, doch mit einigem Drücken kamen doch alle durch – bis auf ein schweres Langholzfuhrwerk mit Zweiergespann.
Die beiden Pferde konnten die Stämme bis kurz vor die Bahnlinie ziehen, die früher anstelle der heutigen Strasse dort durchführte. Die Last wurde nun für die beiden Zugtiere zu schwer, sie zerrten mit aller Kraft an den Strängen, aber umsonst, sie kamen nicht mehr weiter. Der Fuhrmann knallte fluchend und schreiend seine Peitsche den Pferden um die Beine. Funken stoben von den Pflastersteinen, da die Hufeisen auf diesem Untergrund keinen richtigen Halt finden konnten.
Das Fuhrwerk kam trotz den dauernden Peitschenschlägen nicht vom Fleck. Für mich kleinen Jungen war es schrecklich, diesem zuzusehen und nichts machen zu können. Ich nahm mir ein Herz und bat Fräulein Spengler einzuschreiten. Doch die Antwort war niederschmetternd. Wir sollten wegsehen. Noch heute sehe ich die beiden schweissnassen und zitternden Tiere vor mir. Sie kamen erst weiter, als ein zweites Pferdepaar vorgespannt wurde.
Kurze Zeit später fiel mir ein Bierkutscher der Müllerbräu auf. Er fuhr einen einspännigen Eiswagen. Dies war damals ein hoher Kastenwagen, der grosse und schwere Eisstangen zu den Häusern und Wohnungen brachte. Die Stangen waren für die Eiskästen bestimmt, die noch nicht elektrisch betrieben wurden. Vorgespannt war ein grosser, starker Brauner mit mächtigen, buschigen Beinen. Doch alle paar Minuten riss der Fuhrmann mit Macht grob am Zügel. Ich lief nebenher, um zu sehen, ob er diese Plagerei dauernd praktizierte. Und wirklich, obwohl das Tier brav die schwere Last zog, riss dieser Quälgeist dem armen Tier das Maul wund. «Rissed Sie doch dem arme Ross ned s Muul kabut», bat ich ihn. Vom hohen Bock kam die Antwort: «Das got dech än Dräck a, pass du lieber i dä Schuel uf!» Wieder konnte ich nicht helfen.
Viel später, in den 50er-Jahren, war ich anlässlich meiner Hochzeit in Lissabon. Im Gegensatz zur Schweiz gab es dort noch viele Pferde- und Maultierwagen neben den Autos und Lastwagen. So frisch verheiratet mit meiner Braut auf den sonnenüberfluteten Strassen dieser malerischen Stadt zu spazieren, was konnte es Schöneres noch geben. Und doch wurde ich unvermittelt an meine Badener Geschichten erinnert. Ein Fuhrmann auf einem Zweiradkarren schlug grausam auf sein stolperndes Maultier ein, das mit seiner Last auch nicht mehr weiterkam.
Empört schrie ich auf schweizerdeutsch, in Ermangelung des Portugiesischen: «Du truurige Chaib, los doch das arme Tier in Rueh!» Doch voll Angst zerrte mich meine Frau mit beiden Händen aus der Reichweite des peitschenden Unmenschen, denn den nächsten Schlag erwartete sie für mich. Als erwachsener Mensch hatte ich also genauso wenig Macht wie als siebenjähriger Junge, eine Quälerei zu stoppen.
Etwas tröstet mich heute, das Auto ist wenigstens der Messias für die Zugtiere geworden.