Bezirksgericht Baden
Gericht spricht Vater und Grossmutter im «Fall Anna» schuldig: «Urteil ist erschütternd und unbegreiflich»

Das Bezirksgericht Baden hat am Donnerstagnachmittag das Urteil im «Fall Anna» eröffnet: Der Vater erhält 22 Monate bedingt, die Grossmutter 16 Monate. Ob Beni und Martina Hess das Urteil anfechten, ist noch offen.

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Standen in Baden vor Gericht: Martina Hess und ihr Sohn Beni Hess.

Standen in Baden vor Gericht: Martina Hess und ihr Sohn Beni Hess.

Colin Frei.

Das Verschulden von Beni Hess wiege leicht bis mittelschwer, sagte Gerichtspräsident Daniel Peyer. Das Bezirksgericht Baden verurteilte Hess am Donnerstagnachmittag zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 22 Monaten für die mehrfache Entführung seiner mittlerweile 14-jährigen Tochter Anna (Name geändert). Hess muss zudem eine Busse von 2000 Franken entrichten und seiner mexikanischen Ex-Frau, Annas Mutter, 5452 Franken Schadenersatz und Genugtuung zahlen.

Annas Grossmutter Martina Hess kassierte eine bedingte Freiheitsstrafe von 16 Monaten sowie eine Busse von 2000 Franken. Auch sie muss Annas Mutter 5452 Franken Genugtuung und Schadenersatz entrichten. Martina Hess floh im Mai 2015 für fast zwei Wochen mit ihrer Enkelin Anna nach Frankreich. Damals spitzte sich der Streit um Annas Aufenthaltsort zu. «Das Urteil wird dem Kind und dem Kinderwillen überhaupt nicht gerecht», sagt Martina Hess gegenüber «Tele M1». Sie kritisiert die Richter: «So ein Urteil zu fällen, ohne mit dem Kind auch nur ein einziges Mal zu sprechen, ist für mich erschütternd und unbegreiflich.»

Beni Hess und seine Mutter haben noch nicht entschieden, ob sie das Urteil an die nächste Instanz weiterziehen. Sie warten zuerst die schriftliche Begründung ab. Beni Hess Partnerin wurde von der Gehilfenschaft der Entführung freigesprochen.

Gericht lässt Sicherheitsargument nicht gelten

Das Gericht kam zum Schluss, das Beni Hess nicht über den Aufenthaltsort seiner Tochter bestimmen durfte, als er mit ihr im Sommer 2014 entgegen der Abmachung mit der Mutter in der Schweiz blieb.

Es sah deshalb den Tatbestand der Entführung als gegeben. Es liess auch das Argument der schlechten Sicherheitslage in Mexiko nicht gelten. Eine unmittelbare, konkrete Gefahr habe für Anna nicht bestanden.

Die Vorgeschichte:

Am Ursprung der Geschichte steht ein Elternkonflikt, bei dem sich Vater und Mutter nicht auf den Wohnort ihrer Tochter einigen konnten. Beni Hess zog mit Anna 2014 ohne die Erlaubnis der Mutter dauerhaft in die Schweiz. Das Bundesgericht ordnete im Frühling 2015 Annas Rückführung nach Mexiko an. Um dies zu vereiteln, flohen sie und ihre Grossmutter Martina Hess vorübergehend nach Frankreich. Im Juli 2015 brachte die Polizei Anna mit ihrer Mutter zum Flughafen, um die Rückreise anzutreten. Beni Hess reiste seiner Tochter später nach. Anfang 2018 packten sie wieder die Koffer für die definitive Rückkehr in die Schweiz. Dieses Mal gab das Bundesgericht Beni Hess und Anna Recht. Es schickte das mittlerweile 13-jährige Mädchen trotz Antrag der Mutter nicht mehr zurück nach Mexiko. Die Richter in Lausanne kamen nun zum Schluss, Anna habe den mehrfach geäusserten Willen, bei ihrem Vater in der Schweiz leben zu wollen, autonom gebildet.

Die Mutter trat am Prozess als Privatklägerin auf und warf Beni Hess vor, er verunmögliche Anna, ferienhalber zu ihr nach Mexiko zu reisen. Ihre süsse, witzige, kluge und starke Tochter verdiene das auch, um Kontakt zu ihren mexikanischen Verwandten aufrechtzuerhalten. Die Mutter berichtete, sie habe schreckliche Tage erlebt, als Anna mit ihrer Grossmutter verschwunden sei und sie über deren Schicksal im Ungewissen gelassen worden sei. Die Anwältin der Mutter bezeichnete das Drama um Anna als das düsterste Kapitel in deren Leben. «Sie muss mit einem gebrochenen Herzen leben.»

Regelmässiger Austausch mit der Mutter

Anna wehrte sich heftig gegen ihre Rückführung im Sommer 2015. Sie betonte immer wieder, sie wolle bei ihrem Vater in der Schweiz wohnen und hoffe, dass auch ihre Mutter in die Nähe ziehe. Anna fürchtete sich vor der grassierenden Kriminalität in Mexiko und schätzte es, den Schulweg in der Schweiz mit Freunden zurücklegen zu können - ohne ständig befürchten zu müssen, entführt zu werden. In Mexiko erhielt Beni Hess konkrete Drohungen gegen ihn und seine Tochter.

Anna lebt mit Beni Hess, dessen Partnerin und ihrem Stiefbruder in Bremgarten. Unter der Woche besucht sie eine Privatschule im Kanton St. Gallen. Mit ihrer Mutter, die sich schon in der Schweiz besucht hat, tauscht sie sich regelmässig via Telefon, E-Mail und Whatsapp aus.