Mehr als 900 Spreitenbacher – rund ein Fünftel aller Stimmberechtigten – pilgerten am Dienstagabend an die denkwürdige Gemeindeversammlung in der Umweltarena, um über die Teiländerung der Bau- und Nutzungsordnung (BNO) abzustimmen. Die wäre nötig gewesen, um aus der Einkaufszone beim Shoppi Tivoli eine Wohn- und Gewerbezone zu machen, um damit dem «Zentrum Neumatt» den Boden zu bereiten. Doch daraus wurde nichts: Mit 590 zu 327 Stimmen wurde das Projekt deutlich abgelehnt. Eine grosse Enttäuschung für alle, die seit Jahren am 200-Millionen-Projekt mitgearbeitet haben. Viele Ressourcen wurden dafür aufgewendet, die Bevölkerung über die Jahre intensiv in die Ausarbeitung des Projekts mit einbezogen und zahlreiche Informationsveranstaltungen organisiert, um die Mehrheit von der Notwendigkeit des Projekts zu überzeugen.
Der Ausgang der Abstimmung schien knapp, die deutliche Ablehnung am Ende überraschte alle. Es wäre Gemeindepräsident Valentin Schmid, der sich stark für eine neue Mitte Spreitenbachs engagiert hatte, zu wünschen gewesen, er hätte seinen bereits vor der Versammlung eingereichten Rücktritt nach einem Ja bekanntgeben können.
Doch eine Mehrheit wollte nicht noch mehr Hochhäuser mit insgesamt 500 Mietwohnungen im mittleren und höheren Preissegment und keinen Stadtplatz, der Spreitenbach ein freundlicheres Gesicht hätte bescheren sollen. Zudem sind wohl viele Einwohner der vielen Baustellen müde.
So sind in den letzten Jahren neue Quartiere entstanden, wie zum Beispiel im Kreuzäcker mit rund 260 Einwohnern und dem Hilton-Hotel, im Sandäcker wurde 2019 der «Limmatspot» mit Multiplexkino und 195 neuen Wohnungen eingeweiht, ausserdem wird in Spreitenbach aktuell die Strecke für die Limmattalbahn gebaut und gerade erst vor wenigen Tagen erhielt ein weiteres Megaprojekt die Baubewilligung: Der «Tivoli Garten». Dort entstehen nicht nur ein Obi Baumarkt und eine Haltestelle für die Limmattalbahn, sondern ebenfalls mehrere Hochhäuser, darunter zwei mit einer Höhe von 66 Metern, mit insgesamt 438 Wohnungen. Nicht zu vergessen das neue Hotel, dem die Waschanlage «Car Wash» weichen muss. All diese Bauten sind in der Nähe der Landstrasse beim Shoppi Tivoli angesiedelt und werden das Ortsbild Spreitenbachs weiter verändern. Nur mittendrin, im Gebiet Neumatt, wird in den nächsten 10, 15 Jahren alles so bleiben wie es heute ist. Weiterhin werden Beton und Asphalt die Gegend dominieren, wie die «Neumatt»-Befürworter monierten.
Wer kann es den Spreitenbachern bei all der Bautätigkeit deshalb verübeln, dass sie nun einfach auch einmal genug haben? Und wer kann ihnen die Ängste darüber verübeln, wer denn wirklich in die neuen Hochhäuser ziehen wird? Ob es tatsächlich vermehrt steuerkräftige Personen gewesen wären wie ihnen die Gemeinde mit einer extra dafür in Auftrag gegebenen Studie schmackhaft machen wollte? In dieser wurde festgestellt, dass in den nach der Jahrtausendwende gebauten Hochhäusern bevorzugt Doppelverdiener, kinderlose Paare oder gut verdienende Singles leben. Damit konnte die Gemeinde aber auch nicht überzeugen.
Wer die jüngere Geschichte Spreitenbachs kennt, der kann die deutliche Ablehnung noch etwas besser verstehen. Der Bauboom in Spreitenbach startete Anfang der 60er-Jahre mit Planer Kurt Scheifele, einem Anhänger von Hochhäusern und sozusagen Erfinder von «Neu-Spreitenbach». Am 26. Januar 1960, also ziemlich genau vor 60 Jahren, war von der Gemeindeversammlung der erste Zonenplan überhaupt genehmigt worden – in den Jahren zuvor mit Scheifeles klaren Vorstellungen herausgearbeitet – der auf dem Areal des heutigen Centers ausdrücklich ein Einkaufszentrum vorsah. Zehn Jahre später, am 12. März 1970, wurde das erste Shoppingcenter der Schweiz feierlich eröffnet. In der Ortsgeschichte Spreitenbachs ist folgender Satz von Planer Scheifele aus dem Jahr 1957 zu lesen: «Wenn wir ein modernes Bauen ermöglichen und fördern, wird Spreitenbach einen guten Ruf bekommen. Dann erhalten Sie auch gute Steuerzahler, was für die Gemeinde wichtig ist.» Wir alle wissen, wie es herausgekommen ist. Spreitenbach hat mit über 50 Prozent den höchsten Ausländeranteil im Kanton und der Anteil an Sozialhilfebezügern ist mit über 5 Prozent für Aargauer Verhältnisse überdurchschnittlich hoch. In den Medien wird das Dorf oft als sozialer Brennpunkt dargestellt. Die Förderung von Hochhäusern und der Bau der beiden Einkaufszentren in den 70er-Jahren haben die Gemeinde nachhaltig geprägt, nicht unbedingt im positiven Sinne.
Beim Zentrum Neumatt gab es für die Bevölkerung sozusagen ein Déjà-vu: Die Gemeinde argumentierte ähnlich wie damals Scheifele, doch Gegner wie Marcel Suter, Kopf des Nein-Komitees, waren sich sicher, dass auch mit dem neuen Zentrum der Steuerertrag nicht steigen werde: «Auch in 20 Jahren sind diese Welten wieder alt und der Mietermix ein anderer», sagte er am Dienstag. Ein Blick in die Geschichte Spreitenbachs gibt ihm unweigerlich recht.
Trotzdem: Das Wachstum ist Fakt, die Limmattalbahn kommt und die Gemeinde ist heute schon attraktiver für Neuzuzüger. Die Bevölkerung wächst kontinuierlich an. Inzwischen sind es mehr als 12000, die Gemeinde rechnet bis 2030 mit 14500 Einwohnern. Für den Kanton gehört Spreitenbach zudem zu einem wichtigen Wohn- und Entwicklungsschwerpunkt, dem die Gemeinde Rechnung tragen muss.
Spreitenbach wird auch in Zukunft nicht stillstehen. Wer weiss, vielleicht ist in ein paar Jahren der Zeitpunkt der Passende, um das Projekt wieder aus der Schublade zu holen.