Kolumne «Mitgehört»
Geschichten aus dem Leben mitgehört

Andrea Trueb beschreibt und zeichnet seit über 10 Jahren Szenen aus dem Alltag. Bus, Bahn, Bar – überall findet sie Geschichten für ihre Kolumne. Sie sagt: «Alles mitgehört, nichts erfunden».

Manuel Bühlmann
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Andrea Trueb in Aarau, wo die 44-jährige Journalistin mit ihrer Familie lebt.

Andrea Trueb in Aarau, wo die 44-jährige Journalistin mit ihrer Familie lebt.

Mario Heller

An der Wand krabbelt ein grosser Käfer hoch. Die beiden jungen Frauen rücken so weit weg, wie es das Sofa zulässt. Ihr Begleiter kehrt zurück, in der Hand ein Glas und ein Stück Papier. «Ah, jetzt kommt der Held», kommentiert Andrea Trueb das Geschehen am Nebentisch. Doch dieser reicht das Glas weiter an eine der Frauen, die das Ungeziefer schliesslich fängt und ausserhalb der Bar in der Aarauer Altstadt wieder freilässt.

Eine Szene, wie geschaffen für Andrea Trueb und ihre Kolumne «Mitgehört». Jede zweite Woche beschreibt und zeichnet die 44-Jährige für die «Schweiz am Sonntag» Anekdoten, die sie im Alltag mithört. Meist skurrile, lustige Geschichten, die den Leser schmunzeln lassen. Vom Papagei, der in der Socke eines Flugzeugpassagiers in die Schweiz geschmuggelt wurde. Vom jungen Mann, dessen Hodensack ins Staubsaugerrohr geriet. Von der bösen Vermieterin, die trotz unvermieteter Wohnung in der Garage haust. Zu gut, um wahr zu sein?
Nein, sagt Andrea Trueb. «Alles habe ich selbst beobachtet und mitgehört, nichts ist erfunden.» Seit über zehn Jahren schreibt und zeichnet sie die Kolumne; die Themen sind ihr noch nie ausgegangen. Wenn sie in Bus oder Bahn einsteigt, setzt sie sich in die Nähe von Gruppen oder telefonierenden Passagieren.
Dort ist die Chance auf gute Geschichten am grössten. «Leute in Gruppen achten wenig darauf, was sie erzählen, und reden laut.» Ein Zug voller Rekruten oder Kinder auf der Schulreise ist für sie der Idealfall. Manchmal hat sie Pech, etwa, wenn jemand mitten im Gespräch den Zug verlässt. Pech ist auch, wenn sich eine Gruppe in einer Sprache unterhält, die sie nicht versteht. «Das schränkt ein. Manchmal bedauere ich, nicht auch noch Thailändisch oder Serbokroatisch zu sprechen.»

Sie beobachtet diskret, macht in der Pendlerzeitung Notizen, statt die Kreuzworträtsel zu lösen. Gestört von ihr solle sich niemand fühlen. «Sonst denken die Leute noch, ich sei unhöflich», sagt sie und lacht. «Ich habe nie die Absicht, jemanden blosszustellen.» Die Protagonisten anonymisiert sie bewusst. Bisher hätten sich erst drei Leute bei ihr gemeldet, die sich oder jemand anders wiedererkannten. So sprach sie etwa eine Frau an, sie habe die Kolumne gelesen und sei nun ein wenig verwirrt. «Ich habe kürzlich ein identisches Gespräch geführt», sagte sie. Trueb löste das Rätsel auf – «sie fand es lustig».

Die Idee für die Kolumne ist zufällig entstanden. Die Journalistin pendelte damals von Aarau nach Zürich. Eines Morgens begegnete sie am Hauptbahnhof einem Geschäftsmann, der laut und für alle hörbar am Handy über den Handel mit Diamanten referierte. Kurzerhand schrieb sie den Monolog auf, zeichnete eine kleine Karikatur dazu. Dem Chef gefiels, «Mitgehört» war geboren. «Ein wenig wie ein Kind» sei die Kolumne über die Jahre für sie geworden, sagt Andrea Trueb. Ihre beiden richtigen Kinder tauchten früher ab und zu in einem «Mitgehört» auf. Das ging, als die Söhne noch kleiner waren. Inzwischen sind sie 17 und 19 Jahre alt. Ihre Mutter sagt: «Heute fänden sie das gar nicht mehr lustig.»

Wie viele Kolumnen sie schon geschrieben hat, weiss Andrea Trueb nicht. Sie sei schon angefragt worden, ob sie daraus nicht ein Buch machen wolle. Sie winkte ab. «Es würde ewig dauern, bis ich alle Fotos und Texte auf den verschiedenen Speichersticks gefunden hätte.» Ans Aufhören denkt sie auch nach über einem Jahrzehnt nicht. «Verleidet sind mir die Kolumnen noch lange nicht.» Während des Gesprächs schiebt sie ihre Lesebrille von Zeit zu Zeit hoch in die halblangen dunklen Haare, legt sie dann wieder vor sich auf den Tisch. Fragen stellt sie mindestens genauso gerne, wie sie sie beantwortet. Die Neugier treibe sie an. «Das Interesse an den Menschen, wie sie denken, was sie diskutieren.»

Die Käferjagd übrigens wird es nicht in eine ihrer Kolumne schaffen. Der Grund: Andrea Trueb hat sich in das Gespräch eingemischt. Kurz nur, aber trotzdem. Bestimmt sagt sie: «Das geht nicht.» Die Kolumnistin schreibt auf, was sie hört. Aufmerksame Zuhörerin, aber nie selbst Protagonistin – so sieht sie ihre Rolle.