Kirchenhistoriker Emidio Campi hat sich mit der AZ zum Gespräch getroffen. Er spricht über das ausklingende Reformationsjahr – und wie er per Zufall nach Baden kam.
Das Reformationsjahr ist bald vorbei. Emidio Campi hätte sich manchmal ein etwas tiefgründigeres Jubiläumsjahr gewünscht. Der Badener ist emeritierter Professor für Kirchengeschichte und war von 1998 bis 2009 Leiter des Instituts für Reformationsgeschichte an der Uni Zürich. Seitdem wirkt er als Gastprofessor an europäischen und amerikanischen Universitäten und zuletzt in Seoul.
Als wir ihn im «Himmel» in Baden zum Kaffee treffen, möchte er weniger über sich als vielmehr über sein jüngstes Werk sprechen: Das Handbuch «Die schweizerische Reformation», das er Ende November im Auftrag des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes auf Deutsch mitherausgegeben hat. Es ist jetzt schon das Standardwerk zu diesem Thema. Auf Englisch ist das Buch schon 2016 erschienen, als Editio minor auch auf Koreanisch.
Emidio Campi wurde 1943 in Torre Maggiore in Apulien geboren und wuchs in einer waldensischen Familie auf – im katholischen Italien. Die Waldenser sind jene Christen, die um 1170 in Frankreich eine frühe Reformbewegung bildeten und jahrhundertelang von der katholischen Kirche als Ketzer verfolgt wurden, bis sie im 19. Jahrhundert zur anerkannten reformierten Kirche in Italien wurden. «Das hinterlässt Spuren im kollektiven Gedächtnis», sagt Campi. Er sei deshalb «von Geburt an und aus Überzeugung reformiert».
Campi kam 1989 nach dem Studium in Rom, Tübingen und Prag nach Zürich, wo er sich in Kirchengeschichte habilitierte. Er ist heute schweizerisch-italienischer Doppelbürger. Seine Frau Irene ist Psychologin und stammt aus dem Bündnerland. Er sagt, er fühle sich mit beiden Ländern sehr verbunden. «Oder besser gesagt: Mit beiden Kulturen verbunden.» Sein Refugium sei die Ferienwohnung im Bündnerland. Dort fährt er gerne mit seiner Frau hin – und mit Hündin Kimi, die so gern in den Bergen sei, vor allem wenn es schneit.
Vom Charakter her sei er schon eher Schweizer als Italiener, sagt Campi. Er spricht nachdenklich und eloquent – und erzählt im nächsten Moment voller Begeisterung und mit leuchtenden Augen von seiner Arbeit. 2009 wurde Campi emeritiert. Er forscht und reist weiterhin viel, ist an Tagungen im In- und Ausland, in Italien, im englischsprachigen Raum, in Deutschland. Er sagt, die Reformation sei seine Leidenschaft. «Vielleicht übertreibe ich ein wenig, aber es macht Spass.» Campi hat viel zu Calvin geforscht, zu Zwingli und Vermigli. Sein grösstes Interesse galt aber Heinrich Bullinger. Der Reformator aus Bremgarten stand lange im Schatten der anderen reformierten Kirchenväter. «Wenn ich ein Verdienst habe», sagt Campi, «dann ist es die Wiederentdeckung Bullingers als Reformator von europäischem Rang – auf Augenhöhe mit Zwingli, Calvin und Luther.»
Zum neuen Handbuch sagt er, die schweizerische Reformation finde hierzulande weniger Beachtung als etwa in Grossbritannien, den USA, Kanada oder Korea. Er hofft, dass mit dem neuen Buch eine nachhaltige Erinnerung an das Reformationsjahr bleibt. Man hätte sich seiner Meinung nach in diesem Jubeljahr etwas deutlicher fragen müssen: «Was feiern wir eigentlich – und mit wem feiern wir?»
Campi sieht die Reformation nicht als epochales Ereignis von kurzer Dauer, sondern als einen jahrhundertelangen Prozess der Erneuerung in ganz Europa, der seine Wurzeln im Mittelalter hat und bis heute nachwirkt. Die Schweizer Reformation sei ein fester Bestandteil dieser europäischen Bewegung gewesen. Emidio Campi sagt, er hätte sich gewünscht, dass man 2017 weiter zurückgegangen wäre zu den Ursprüngen und Inhalten der Reformation. Weniger Selbstgefälligkeit, dafür mehr Theologie. Und er wünscht sich mehr Ökumene in den christlichen Kirchen und mehr Engagement für die Zivilgesellschaft: «Ich stehe ein für evangelische und demokratische Werte. Dazu gehört auch das ökumenische Engagement.»
Als wir zusammen zur reformierten Kirche am Bahnhofplatz spazieren, um dort in Ruhe ein Foto schiessen zu können, erzählt er uns, was für eine Schmach es gewesen sei für die Badener, als sie 1714 die reformierte Kirche bauen mussten. Die reformierten Eidgenossen zwangen nach den Villmergerkriegen die katholischen Untertanen, die Kirche aus den Trümmern von Schloss Stein zu bauen. Heute ist diese Schmach längst vergessen. Im schlichten Kirchenraum fühlt sich Campi sichtlich wohl.
Er und seine Frau kamen eigentlich per Zufall nach Baden. Sie suchten einen schönen Ort zum Leben und liessen sich im Meierhof nieder. «Es hat uns hier sehr gefallen, auch wegen des Thermalbads. Wir hatten gedacht, das Bad sei einmal auch etwas fürs Alter. Das war vielleicht ein Fehler», sagt Campi und lacht. Sein jüngster Sohn wohnt heute auch in Baden, die anderen drei Kinder leben in Genf.
Was er besonders schätze hier, sei die Kleinstadtatmosphäre und die Geschichte, die hier so gut spürbar sei. «Ich brauche Geschichte um mich herum», sagt er. Deshalb habe er einmal sogar einen Ruf an eine Uni in Amerika abgelehnt. «Wenn ich Lust auf Mittelalter oder frühe Neuzeit habe, muss ich nur rausgehen und durch die Altstadt spazieren. Das ist wunderbar.»
«Die schweizerische Reformation», Ein Handbuch hg. von Emidio Campi et al., Theologischer Verlag Zürich, 2017, 740 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, 90 Fr.