Baden
«Ich wollte nie ein Staatsdiener sein»: Nach fast 30 Jahren als Aquilana-Chef geht Dieter Boesch in Ruhestand

Der Geschäftsführer des Badener Versicherers bleibt weiterhin VR-Präsident. Im Interview spricht er über sein Gehalt, steigende Prämien und sein Vermächtnis.

Martin Rupf
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Aquilana-Chef Dieter Boesch in seinem Büro: «Krankenkassen-Prämien sind immer auch der Spiegel der verursachten Kosten.»

Aquilana-Chef Dieter Boesch in seinem Büro: «Krankenkassen-Prämien sind immer auch der Spiegel der verursachten Kosten.»

Severin Bigler

Gut gelaunt empfängt Dieter Boesch den Journalisten zu seinem allerletzten Interview. Das Pult ist penibel aufgeräumt. «Das war es aber immer, das hat nichts mit meinem baldigen Ruhestand zu tun», sagt Boesch lachend. Ende dieses Monats geht der 65-Jährige in Pension.

Nach fast 50 Jahren im gleichen Unternehmen – 30 Jahre davon als Chef – naht bald Ihr letzter Arbeitstag. Realisieren Sie dies schon wirklich? Erledigen Sie die Arbeiten bewusster und sind Ihre Mitarbeiter in den letzten Wochen besonders nett zu ihnen?

Dieter Boesch: Es gibt gar nicht so viel zu realisieren. Denn ich neige dazu, wirklich Wichtiges möglichst im Voraus genau zu planen. So habe ich bereits vor vier Jahren einen Rentnervorbereitungskurs der ABB besucht und drei mögliche Modelle für mich skizziert.

Ich habe mich – selbstverständlich in Absprache mit unserem Verwaltungsrat entschieden, mein Amt als VR-Präsident von Aquilana und meine verbandspolitischen Mandate unter anderem als Vizepräsident von Santésuisse zu behalten. Das wird mich noch zu rund 60 Prozent beschäftigen.

Das grosse Loch wird also nicht kommen. Es ist sogar angedacht, dass ich das Amt als VR-Präsident Aquilana bis ins Jahr 2025 bekleide – dann werde ich 70 Jahre alt sein. Aber so oder so gibt es bei mir kein «Ausplempern». Und zu den Mitarbeitern: Die sind und waren schon immer nett zu mir (lacht).

Sie haben Ihr ganzes Berufsleben für den gleichen Arbeitgeber geopfert, wenn man so will. Haben Sie manchmal bereut, nicht auch einmal etwas Neues ausprobiert zu haben?

Nein, ganz und gar nicht. Natürlich gab es Momente, in denen es mich gejuckt hat oder ich von aussen mit interessanten – teils auch mit deutlich besserem Salär – geködert wurde. Doch mir ging es nie primär ums Geld. Mich hat bei der Aquilana vielmehr immer gereizt, dass ich als Generalist für alle möglichen Bereiche wie Marketing, Finanzen, IT, Personalführung, aber auch politische Arbeit zuständig war.

Apropos Geld: Sie erhalten ein Jahressalär von rund 300'000 Franken, was immer – nicht nur in Ihrem Fall – kritisiert wurde. Wie rechtfertigen Sie einen solch hohen Lohn?

Ich kann verstehen, dass dieser Lohn als hoch empfunden werden kann. Ich glaube aber, der Lohn für das Doppelmandat von VR-Präsident und Geschäftsführer ist aus mehreren Gründen nicht überrissen. Erstens sind wir mit einem Verwaltungsaufwand von nur fünf Prozent der Prämien eine der günstigsten Krankenkassen der Schweiz. Will heissen, rund 95 Prozent der Prämien fliessen als Leistung zurück.

Zweitens gibt es wie bei den Banken und Versicherern einen Markt für Top-Kader, und es ist immer der gesamte Verwaltungsrat, der die Saläre absegnet. Und drittens darf ich unbescheiden sagen, dass ich aufgrund der Aquilana-Erfolgsstory in den letzten 40 Jahren offensichtlich nicht alles falsch gemacht habe und mein Salär auch in Relation zur aktuellen Bilanzsumme von 320 Millionen Franken mit einem Anteil von lediglich 0,1 Prozent vernünftig erscheint.

Persönlich

Dieter Boesch trat nach der KV-Lehre bei der BBC 1974 als Kassier beim Krankenversicherer Aquilana ein und hat sich berufsbegleitend laufend weitergebildet. Seit 1991 ist er sowohl Geschäftsführer wie auch VR-Präsident. Boesch wohnt in Brugg, ist seit vielen Jahren in einer festen Partnerschaft und Vater eines erwachsenen Sohnes aus erster Ehe. In der Freizeit fährt er gerne Rad, wandert und reist gerne in ferne Länder. (mru)

Beim Thema Krankenkasse interessiert den Leser vor allem eines: die ständig steigenden Krankenkassenprämien. Gemäss einer Studie werden die Prämien im Jahr 2030 bereits über elf Prozent des Einkommens ausmachen. Ein Grossteil könnte die Prämien der Obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP) nicht mehr tragen, nur noch wenige Menschen könnten sich Zusatzversicherungen leisten. Ihr Kommentar?

Da wird teilweise bewusst Schwarzmalerei betrieben, um Druck auf die Krankenversicherer und das Gesundheitssystem zu erzeugen. Was aber stimmt: Nullrunden oder sogar Prämiensenkungen in der OKP wie zum Beispiel per Januar 2020 sind äusserst selten und nur bedingt durch aussergewöhnliche Umstände finanziell verkraftbar. Das Ziel kann – dank geeigneten, politischen Massnahmen – höchstens sein, die Kostensteigerung nachhaltig zu bremsen. Prämien sind stets «nur» der Spiegel der verursachten Kosten.

Woher dieser Pessimismus?

In den letzten Jahren sind die OKP-Prämien um durchschnittlich vier Prozent jährlich gestiegen, und das werden sie vermutlich auch in Zukunft. Wir werden immer älter und der technische Fortschritt in der Medizin schreitet stetig voran, weshalb das ganze Gesundheitssystem immer teurer wird.

Und irgendwie ist es auch ein Teufelskreis: Wenn ich immer mehr Prämien bezahle, dann will ich auch etwas für mein Geld. Will heissen, ich gehe im Zweifelsfall lieber mal zu viel zum Arzt oder ich unterziehe mich lieber einmal zu viel einer aufwendigen und teuren – vielleicht sogar unnötigen – Untersuchung.

Aber irgendwann kommt das System doch zum Kollaps?

Am Ende ist dies eine Frage der Sozialpolitik beziehungsweise der Solidarität. Schon heute erhält jeder Dritte in diesem Land eine Prämienverbilligung. Für eine vierköpfige Familie kann das rund 5000 Franken pro Jahr ausmachen.

Da kann man sich schon fragen, ob das noch das richtige System ist. Fakt ist aber auch, dass sich gerade Politiker extrem schwertun, heisse Eisen im Gesundheitswesen anzufassen. Welcher Politiker fordert schon die Schliessung eines nicht rentablen Spitals, wenn er wiedergewählt werden möchte?

Beim Thema steigende Prämien kommt immer auch wieder die Einheitskasse aufs Tapet, weil der Wettbewerb unter den Kassen als Kostentreiber angesehen wird. Selbst wenn dem nicht so ist, macht es wirklich Sinn, dass es im Bereich des Krankenkassenobligatoriums (KVG) verschiedene Kassen gibt?

Ich bin grundsätzlich ein liberal denkender Mensch und deshalb entschieden gegen eine Einheitskasse. Oder anders gesagt: Wenn die Einheitskasse gekommen wäre, dann wäre ich weg gewesen. Denn ich wollte nie ein Staatsdiener werden.

Doch der Leistungskatalog im obligatorischen Bereich ist doch austauschbar?

Ja, Sie haben recht. Der obligatorische KVG-Bereich ist zwar stark reguliert; der Leistungskatalog eigentlich austauschbar. Und doch gilt auch hier: Konkurrenz belebt den Markt und fördert den Wettbewerb. Man darf nicht vergessen, dass wir Versicherer trotz klar definiertem Leistungskatalog Einfluss bei der Gestaltung der Prämien haben. Dies zum Beispiel aufgrund der Zusammenstellung all unserer Versicherten sowie aufgrund der individuellen, finanziellen Ausgangslage eines jeden einzelnen Anbieters.

Zurück zu Ihrem nahenden, letzten Arbeitstag als Geschäftsführer der Aquilana. In welchem Zustand übergeben Sie das Unternehmen an Ihren Nachfolger?

In einem sehr guten, wenn ich das so klar sagen darf. Uns ging es nie nur um Grösse; also darum etwa eine «100'000er-Kasse» zu werden. Mit rund 40'000 OKP-Versicherten haben wir eine überschaubare Grösse. Ich will nicht selbstgefällig klingen: Aber ich kann sagen, wir sind heute auf dem Markt gut etabliert und positioniert.

Können Sie uns das mit ein paar Zahlen belegen?

Als ich 1991 die Geschäftsleitung übernahm, zählten wir 25 Mitarbeitende, heute sind es 40. Wir hatten damals 30'000 OKP-Versicherte, heute sind es über 40'000. In der gleichen Zeit hat sich die Bilanzsumme von 35 Mio. Franken auf 320 Mio. Franken erhöht.

Und auch finanziell sind wir top fit. Wir haben hohe Rückstellungen und Reserven und verfügen sowohl im KVG wie auch in der Zusatzversicherung über Solvenzquoten, die weit über den gesetzlich geforderten Mindestwerten liegen.

Was ist denn das Erfolgsmodell von Aquilana?

Ich sage immer Ethik vor Monetik. Wir legen Wert auf gute Qualität, sind seit rund 20 Jahren zertifiziert und verkaufen unseren Versicherten nur das, was auch wirklich Sinn macht und ihre Bedürfnisse optimal abdeckt. Deshalb gibt es bei uns auch kein Provisionssystem, das falsche Anreize setzen könnte. Man kann sagen, unsere Produktepalette ist langweilig.

Ich sage aber: Lieber langweilig, dafür einfach und überschaubar. Auch deshalb sind unsere Verwaltungskosten mit rund fünf Prozent sehr tief, sprich wir gehen mit unseren Prämiengeldern ausgesprochen haushälterisch um. Und ganz entscheidend: Wir sind immer für unsere Kunden da. Bei uns kann man quasi jederzeit vorbeischauen und das Gespräch suchen.

Sie bleiben VR-Präsident der Aquilana. Besteht nicht die Gefahr, dass Sie Ihrem Nachfolger Werner Stoller als Geschäftsführer dreinreden werden, haben Sie doch diese beiden Ämter die letzten knapp 30 Jahre bekleidet?

Das denke ich nicht. Wir haben bereits vor über einem Jahr auf einem A4-Blatt alle relevanten strategischen und operativen Tätigkeiten aufgelistet und klar definiert, wer, für welche Bereiche zuständig ist. Die Geschäftsleitung und ich konnten uns ganz ohne Personalausschuss und Schlichtungsstelle einigen. Ich habe Werner Stoller auch gesagt: «Gäll, wenn ich eine rote Linie überschreite, haust Du mir sofort auf die Finger.» Es geht ja dabei nicht primär um Personen, sondern stets um das Wohl der Firma Aquilana.

Wie wollen Sie bei der Aquilana in Erinnerung bleiben?

Mir waren ethische Werte immer wichtig. Deshalb hoffe ich, dass ich sowohl bei meinen Mitarbeitern wie auch bei unseren Versicherten als ehrlicher, korrekter und vor allem vertrauenswürdiger Ansprechpartner und Vorgesetzter in Erinnerung bleiben werde.

Ich wollte immer in den Spiegel schauen können und habe deshalb auch nie jemanden über den Tisch gezogen. Bei mir galt immer: ein Mann, ein Wort. Wohl auch deshalb weisen unsere Mitarbeiter ein durchschnittliches Dienstalter von über acht Jahren auf. Bei der Aquilana sind wir wie eine Familie.

Auch wenn Sie noch zu rund 60 Prozent beruflich beschäftigt sein werden, so werden Sie mehr Zeit haben. Worauf freuen Sie sich am meisten?

Ganz klar darauf, mit meiner Frau mehr Zeit zu verbringen und mit ihr Velo- und Wandertouren zu unternehmen. Dann möchte ich mein Klavierspiel reaktivieren; ich habe als junger Mann rund zehn Jahre Klavier gespielt. Und dann freue ich mich ganz besonders auf unsere sechs Wochen Ferien in Kanada nächsten Sommer. Für so lange Ferien hat in den letzten Jahren immer die Zeit gefehlt.

Alles begann 1892 mit einer Selbsthilfeorganisation

Im Jahr 1892 – also vor 127 Jahren – wurde die heutige «Aquilana Versicherungen» gegründet. Was mit ein paar hundert Mitgliedern anfing, ist heute eine Versicherung mit rund 41'000 Versicherten.

Ende des 19. Jahrhunderts zahlten Arbeiter in den Werkstätten und Fabrikhallen noch keine Krankenkassenprämien. Doch im Jahr 1892 begannen sich BBC-Mitarbeiter für mehr soziale Sicherheit einzusetzen, indem sie sich zu einer Selbsthilfeorganisation zusammenfanden.

Ihr Ziel: sich zu solidarischer Absicherung gegen die Folgen von Krankheit und Unfall zu verpflichten. «In jenen Jahren der schroffen sozialen Gegensätze stellt sich die Frage nach materieller Sicherheit des Arbeitnehmers besonders dringlich», ist in der Festschrift zum 100-Jahr-Jubiläum der Aquilana 1992 zu lesen.

Bis 1994 obligatorisch für ABB-Angestellte

Am 7. Mai 1892 trafen sich Betriebsangehörige im Gasthof Zur Linde in Baden, um über die Gründung einer betriebsinternen Krankenkasse zu befinden. Bereits im Juni nahm die Krankenkassenverwaltung ihre Tätigkeit auf, und es traten die einschlägigen Bestimmungen in Kraft.

Die Beiträge wurden vom Arbeitgeber direkt vom Lohn abgezogen. Jedoch handelte es sich zuerst nur um eine Krankengeldversicherung. Es war also nur der Erwerbsausfall im Falle einer Krankheit oder eines Unfalls abgedeckt. Drei Jahre später konnten die Kassenmitglieder dann auch ihre Kosten für Arzt und Medikamente durch Versicherungsleistungen abdecken lassen.

Dies ist die Geburtsstunde der Krankenpflegeversicherung. 1914 trat das Bundesgesetz für Kranken- und Unfallversicherung in Kraft. Am 1. November gleichen Jahres wurde die Betriebskrankenkasse der Brown, Boveri & Cie. bundesamtlich anerkannt und war fortan subventionsberechtigt. Nach der Fusion von BBC mit Asea zur ABB im Jahre 1988 wurde der Name auf Betriebskrankenkasse Asea Brown Boveri geändert.

Der Beitritt zur Kasse war für alle ABB-Mitarbeitenden lange Zeit obligatorisch. Erst seit Anfang 1994 wurde das Obligatorium aufgehoben. 1995 wurde aus der Betriebskrankenkasse die ABB-Krankenkasse; zwei Jahre später erfolgte der Namenswechsel auf Krankenkasse Aquilana.

Der Name «Aquilana» wurde anlässlich eines internen Wettbewerbs von einer ehemaligen Mitarbeiterin kreiert. Aquilana stamme vom spanischen «Aquila» – der Adler – und stehe sinnbildlich für Freiheit, Überblick und Weitsicht, erklärt VR-Präsident Dieter Boesch. Vor gut zwölf Jahren erhielt die Kasse schliesslich den heute noch gültigen Namen Aquilana Versicherungen.

Aus anfangs 100 wurden bis heute 41'000 Mitglieder

Die 127-jährige Geschichte der Aquilana Versicherungen – seit seiner Gründung ein Verein – ist eine Erfolgsgeschichte. 1892 startete man mit ein paar hundert Mitgliedern. Jährlich nahmen die Zahlen zu; Anfang dieses Jahres gehörten rund 41000 Mitglieder der Versicherung an.

Auch die Prämieneinnahmen sowie die erbrachten Leistungen steigen jährlich. Im Jahr 2016 standen Prämieneinnahmen von 191 Mio. Franken einem Leistungsvolumen von 174 Mio. Franken gegenüber. Die Aquilana Versicherungen beschäftigen heute rund 40 Mitarbeitende.

Martin Rupf