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Baden
Während eines Streits mit einem aggressiven Nachbarn wurde ein 51-jähriger Aargauer an die Wand gedrückt und gewürgt. Um sich zu wehren, biss er den Angreifer in den Daumen. Die Staatsanwaltschaft klagte ihn deswegen an.
Es war eine kurze Verhandlung am Bezirksgericht Baden – und es ging eigentlich um eine Bagatelle: einen Biss in den Daumen. Doch für den Beschuldigten Jakob (Name geändert) ging es um viel. Der 51-jährige Libyer, der seit bald 30 Jahren in der Schweiz lebt, ist seit kurzem IV-Rentner.
Auf die Frage von Gerichtspräsidentin Gabriella Fehr, ob Jakob sich an den Streit mit seinem Nachbarn erinnere, erzählte der Mann mit kurzen dunklen Haaren, Brille und kariertem Hemd in gutem Hochdeutsch noch einmal, was genau an jenem Nachmittag im letzten Herbst passiert ist. Er sei in seiner Wohnung in einem Badener Mehrfamilienhaus gewesen und wollte in der Migros einkaufen gehen. Beim Aussteigen aus dem Lift sei er von einem neuen Nachbarn massiv beschimpft worden.
Dieser habe seine Mutter auf ordinäre Art und Weise beleidigt. Dann habe ihn der Nachbar an die Wand gedrückt, am Hals gepackt, gewürgt und geschlagen. «Es tut mir leid, dass es so gekommen ist. Ich habe keine Luft bekommen und wollte mich befreien», erzählte der angeklagte Jakob vor Gericht. Was die eigentliche Ursache für den Streit war, blieb unklar.
Schon zwei Tage zuvor hatte ihn der Nachbar mit einem Messer bedroht. Beim Angriff vor dem Lift habe er deshalb Angst bekommen. «Ob ich ihn gebissen habe, ist mir nicht mehr bewusst.» Als der Nachbar von ihm abliess, rief Jakob die Polizei, sein Gegner wurde für zwei Tage in Haft genommen. Schon kurze Zeit später habe dieser auch aus dem Haus ausziehen müssen, weil sich Jakob bei der Verwaltung beschwerte, wie er sagte.
Doch das Ganze hatte eben auch für Jakob ein Nachspiel: Er erhielt im Februar einen Strafbefehl von der Staatsanwaltschaft Baden, die ihn zu einer Busse von 200 Franken plus Strafbefehlsgebühr von 400 Franken verurteilte. Er habe den Geschädigten – den Nachbarn – «wissentlich und willentlich in den Daumen» gebissen. Laut Strafgesetzbuch eine Tätlichkeit.
Doch den Strafbefehl wollte Jakob nicht auf sich sitzen lassen. Er habe weder Schulden noch Vermögen, sagte der Beschuldigte zu Einzelrichterin Fehr. Bis zu seiner Arbeitsunfähigkeit habe er stets gearbeitet und auch Alimente für seinen Sohn bezahlt, mit dem er allerdings keinen Kontakt mehr habe. Der Nachbar, der nur kurz in dem Haus wohnte, lebt mittlerweile in einer sozialen Einrichtung. Er habe ihn noch ab und zu in der Stadt oder im Kurpark gesehen, der Nachbar habe ihn immer wieder beschimpft, aber nicht mehr körperlich angegriffen, sagte Jakob.
Der Verteidiger fragte seinen Klienten, ob in der langen Zeit je etwas passiert sei, seit er in der Schweiz lebt. «Nein, ich bin nicht vorbestraft und nie polizeiauffällig gewesen», sagte Jakob. Und auf die Frage, wie es ihm gesundheitlich gehe: «Mir geht es schlecht.»
Laut einem psychiatrischen Gutachten leidet er seit Jahren unter einer chronisch-paranoiden Schizophrenie. Er war auch schon in der Psychiatrischen Klinik in Behandlung. Der Verteidiger schloss daraus, dass eventualiter eine Schuldunfähigkeit vorliege, die noch abzuklären wäre. Aber ganz davon abgesehen habe es sich bei Jakobs Daumenbiss um einen klassischen Fall einer Retorsion gehandelt – sprich um eine entschuldbare, emotionale Erwiderung auf eine Beleidigung. «Er war Opfer, nicht Täter. Er hat sich den Umständen entsprechend gewehrt.» Bei seinem letzten Wort vor dem Urteil sagte Jakob noch einmal: «Es tut mir sehr leid, was passiert ist. Er hat mich angegriffen, sein Finger war in meinem Mund.»
Gerichtspräsidentin Fehr sprach ihn denn auch wie vom Verteidiger im Plädoyer gefordert von Schuld und Strafe frei: «Das war eine klassische Notwehrsituation. Sie wurden bedrängt, Sie haben sich auf eine angemessene Weise gewehrt», sagte sie. Nach dem Urteil war Jakob sichtlich erleichtert. Die Verfahrenskosten gehen zulasten der Staatskasse. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.