Baden
Jazz-Musiker Christoph Gallio: «Musik muss mehr gelebt werden»

Der Badener Jazz-Musiker Christoph Gallio war dank eines Stipendiums der Stadt ein halbes Jahr in Argentinien. Wir haben ihn dort besucht.

Daniel Vizentini
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Der Badener Jazz-Musiker Christoph Gallio
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Spielbereit stehen die Instrumente aufgestellt
In Gallios Übungsraum wähnt man sich wie in einem Labor
Die Künstler aus der Schweiz wohnen in einem 1910 erbauten Haus
Hinter diesen Gebäuden in La Boca steht das Stadion der Boca Juniors

Der Badener Jazz-Musiker Christoph Gallio

Daniel Vizentini

Es war Winter in Buenos Aires, als wir den Badener Musiker Christoph Gallio zum ersten Mal treffen. Für ein halbes Jahr wohnte er dort in der Casa Suiza, dem Atelier der Schweizer Städtekonferenz.

Alle vier Jahre schickt die Stadt Baden jemanden für ein halbes Jahr in das 1910 erbaute Haus im historischen Arbeiterviertel La Boca mit seinen teils baufälligen Häusern und Industriehallen. Graffitis an den Fassaden bringen immerhin Farbe ins Quartier.

Zu den üblichen, allseits bekannten Badener Lokalmusikern zählt Gallio nicht. «Ich lege nicht so viel Wert auf Ruhm und habe nicht das Gefühl, dass ich ständig präsent sein muss», sagt er dazu.

In der lokalen Kulturszene mischt er aber durchaus aktiv mit, zuletzt etwa im Kunstraum Baden mit seiner Ausstellung «Soziale Musik», bei der die Besucher beim Laufen über einen Mosaikteppich selber Geräusche erzeugen und so gemeinsam Musik machen konnten. Dieses Projekt entstand bei seinem letzten Atelieraufenthalt 2009 in Berlin.

In Buenos Aires ging es Gallio vor allem darum, neue Einflüsse zu gewinnen und viel zu produzieren. Da Studio-Mieten in Argentinien relativ günstig sind – etwa ein Zehntel des Preises in der Schweiz – nutzte er die Zeit, um Aufnahmen zu machen.

Seine Musik mag für den Laien chaotisch klingen, Christoph Gallio ist aber ein Musiker mit viel Ordnung und Struktur. In seinem Übungsraum im argentinischen Atelier wähnte man sich wie in einem Labor: Akribisch geordnet lagen Mundstücke und sonstige Einzelteile fürs Saxofon auf einem grossen Tisch, auf den Podesten nebenan sah man seine Instrumente in einer Reihe aufgestellt. Improvisiert war einzig die Schalldichtung in diesem alten Haus mit hölzernen Knacksboden. Kissen an den Wänden schuffen ein wenig Abhilfe.

Im Viertel der Boca Juniors

Von Januar bis Juli hauste Gallio in La Boca. «Unter den einfachen Leuten fühle ich mich wohl», sagt er, der im Quartier Bekanntschaften schliessen konnte, etwa mit dem alten, aus Süditalien eingewanderten Kioskverkäufer, der mit ihm auf Neapolitanisch sprach. «Italienisch kann er gar nicht, nur Dialekt», erzählt Gallio, der seine ersten Lebensjahre in Italien verbracht hatte. Gerne war er auch im Restaurant Il Matterello essen, von dem er sich sicher ist, dass neben ihm nur die lokalen Mafiosi ein und aus gingen.

Das Erbe der italienischen Einwanderer ist in Buenos Aires offensichtlich. In den 90er-Jahren versuchte die Stadtregierung, das heruntergekommene und teils gefährliche La Boca als Kulturdistrikt wiederzubeleben. Gelungen ist es nur teilweise, am ehesten lebt vor allem noch die Fussballkultur: Gallio wohnte nur wenige Blocks entfernt vom Stadion des weltbekannten Fussballvereins Boca Juniors.

Gerade an dem Tag, als wir bei Gallio vorbeischauten, ging dort der lokale Klassiker gegen Erzrivale River Plate über die Bühne. «Boca» sollte den Match später 1:3 verlieren, was man an den lauten Knallbomben während des Gesprächs und später auch an den trüben Gesichtern im Viertel erkennen konnte.

Im falschen Land geboren

Über seine Zeit in Buenos Aires sagt Gallio heute klar, dass er sehr glücklich war. Doch: «Die Menschen dort sind sehr unzufrieden.» Als die Euphorie nach seiner Ankunft verflogen war, sei ihm das immer mehr bewusst geworden.

Gallio nennt als Gründe etwa die enorme Kluft zwischen arm und reich, die Verhärtung der politischen Fronten und die vielen Auseinandersetzungen deshalb. Oder etwa die Dinge, die in Argentinien immer wieder nicht funktionieren und mit der Zeit auf die Nerven gehen. «Man versteht nie ganz, wie das Land funktioniert», sagt er.

Dies widerspiegle sich auch in den Musikern, die er dort kennen gelernt habe. Diese sagten oft, sie fühlen sich im falschen Land geboren. Gallio beobachtete aber auch, wie Dinge oft vor sich her geschoben wurden. Der Zeitverschleiss sei für Schweizer Verhältnisse enorm.

Fast alle Musiker seien zudem politisiert. «Den Free Jazz sehen die Argentinier auch als politische Musik, als Kampfmusik, die befreit», sagt Gallio. Ähnliches habe er schon bei seinem Aufenthalt in Berlin erlebt, denn in der DDR sei viel Free Jazz gespielt worden. «Die Menschen in Argentinien haben wenig Geld, sind dadurch quasi gefangen im eigenen Land. Free Jazz ist da wie eine innere Flucht.»

Von den Musikern, die er kennen gelernt habe, leben viele mit über 30 oder gar 50 Jahren noch bei ihren Eltern, weil sie es sich nicht anders leisten können.

Doch was ist dieser Free Jazz genau? Beim Anhören von Aufnahmen Gallios hat man den Eindruck, dass mit den verschiedenen Tönen eine Geschichte erzählt wird. Es gibt Lieder, die ganz mysteriös anmuten, dann solche, die humorvoll tönen. Und es gibt Songs, die völlig nervös daherkommen, wie eine Erzählung mit ständigen Abzweigungen. Völlig frei halt, darum wohl «Free Jazz». Es tönt nach Improvisation, ist aber komponiert und hat System.

Den Ursprung habe dieser Musikstil in der afroamerikanischen Musik der 60er-Jahre. Während reiner Improvisations-Jazz an Schulen gelehrt werde und heute gemäss Gallio «völlig akademisiert» sei, blieb Free Jazz eine Kunst für sich. «Free Jazz ist mehr eine energetische Sache, die ins Unterbewusste geht. Er tönt laut, durcheinander, surreal und gerät manchmal ausser Kontrolle.»

Freejazz als Sinngebung

Gallio stellt die Frage, was Free Jazz sei, dann auch zurück: «Was ist das für eine Musik, für die es sich lohnt, sie ohne Geld und Perspektive zu machen? Da muss etwas dran sein.» Und weiter: «Hier geht es um Sinngebung, nicht nur um den ‹Plausch› am Spielen.» Freie Improvisation wie im Free Jazz habe sehr viel mit dem Menschsein an sich zu tun, denn Improvisation sei allgegenwärtig, gerade in einer Stadt wie Buenos Aires. «Ich sah dort zum Beispiel Autos, die mit Klebestreifen zusammengeklebt waren. Da ist kein Geld für eine Reparatur vorhanden, also wird improvisiert.» Improvisation sei sehr nahe am Leben.

In Argentinien finde Free Jazz vor allem im Untergrund statt, sagt Gallio. Zu sehen, was da mit wenig Geld alles gemacht werde, sei für ihn eine wichtige Erfahrung gewesen, denn auch in der Schweiz werde das Geld für Kunst immer weniger. «Gleichzeitig wäre es auch gut für die Argentinier zu sehen, was alles möglich wäre mit nur ein wenig mehr finanzielle Förderung.»

So frisch und frei wie die Musik, die Gallio gerne macht, so junggeblieben kommt er auch daher. Seine früher langen Haare hat er abschneiden lassen, in Buenos Aires hat er seinen 60. Geburtstag gefeiert. «Ich fühle mich jung», sagt er. Im Juni war Gallio mit seiner Band «Day&Taxi» auf Tournee durch Argentinien und Chile.

Diese Band hatte er in den 80er-Jahren gemeinsam mit der Turgemer Jazz-Legende Urs Blöchlinger und anderen Musikern gegründet. Als letztes Ursprungsmitglied führt er die Band nun in der fünften Generation weiter mit Musikern, die 30 Jahre jünger sind als er. Und genau dieses Aufeinandertreffen von Generationen mache die Band heute aus. «Die Jungen bringen Frische in die Band, ich gebe ihnen Inhalt und provoziere sie.»

Junge Musiker müssten heute nämlich nicht mehr so kämpfen wie er zu seiner Zeit. «Musik wird heute zunehmend studiert. Sie muss aber mehr gelebt werden», sagt er. «Früher gab es nur die Jazzschule in Bern. Urs und ich aber waren Autodidakten und haben immer gerne die Jungs aus Bern in die Pfanne gehauen», erzählt er humorvoll.

Auch in der Förderung werden heute vor allem junge Musiker berücksichtigt und kaum noch alte. Umso glücklicher sei er deshalb über das Stipendium der Stadt. «Was in Argentinien eben doch sehr schön ist, ist der Respekt vor der Alterserfahrung. Das sehe ich in der Schweiz leider viel weniger.»