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Die Badener Grossrätin und Aargauer CVP-Präsidentin Marianne Binder empfindet den zunehmenden Antisemitismus als bedrohlich. Bislang hat der Kanton Aargau keine Unterstützung an jüdische Einrichtungen geleistet — das soll sich ändern.
Vergangenes Jahr wurde ein 12-jähriges Mädchen in Zürich von seinen Mitschülern als «Scheissjude» beschimpft. Ende Februar haben Unbekannte jüdische Gräber im Elsass beschmiert. Anfang März wurde in Strassburg ein Gedenkstein für eine von den Nazis zerstörte Synagoge beschädigt. Der Holocaust liegt mittlerweile so weit zurück – und doch ist Antisemitismus noch immer ein Thema. Auch in der Schweiz.
Um sich vor solchen judenfeindlichen Aktionen zu schützen, ist etwa die Synagoge der Israelitischen Kultusgemeinde Baden (IKB) gleich doppelt eingezäunt. Solche Sicherheitsmassnahmen sind teuer: Rund ein Drittel ihrer Gesamtausgaben muss die Kultusgemeinde laut ihrem Präsidenten Josef Bollag pro Jahr in die Sicherheit investieren. «Wir sind ein Verein, keine staatlich unterstützte Religionsgemeinschaft», sagt Bollag. «Deshalb erhielten wir bislang keine finanziellen Mittel.»
Damit dies in Zukunft nicht so bleibt, hat der Bundesrat am 30. Januar eine Verordnung zur verstärkten Unterstützung gefährdeter Minderheiten wie eben die jüdische Gemeinschaft in die Vernehmlassung geschickt. Konkret heisst das, der Bund zahlt einen jährlichen Betrag von 500 000 Franken, damit bauliche Massnahmen sowie Massnahmen in der Sensibilisierung, Ausbildung und Information umgesetzt werden können. Nun fordert der Bund die Kantone und Städte auf, diesen Betrag zu ergänzen.
Bislang hat der Kanton Aargau einen Beitrag an jüdische Einrichtungen als nicht nötig empfunden. «Der Kanton Aargau verfügt über keine Rechtsgrundlage für die Leistung von finanziellen Beiträgen an die Sicherheitskosten von gefährdeten Minderheiten», sagt Hans Peter Fricker, Generalsekretär des Departements Volkswirtschaft und Inneres, auf Anfrage. Die offizielle Antwort des Kantons auf die Forderung des Bundes steht aber noch aus. Die Frist läuft bis zum 7. Mai.
Die Badener Grossrätin und Aargauer CVP-Präsidentin Marianne Binder empfindet den zunehmenden Antisemitismus als bedrohlich. Noch bedrohlicher findet sie jedoch die abwehrende Haltung des Kantons. Bereits vor zwei Jahren reichte sie einen Vorstoss ein, mit dem Ziel, der Kanton soll jüdische Einrichtungen finanziell unterstützen. Der Vorstoss betraf zwar nicht nur jüdische Einrichtungen. Doch ausgerechnet jüdische Organisationen müssten selbst für ihren Schutz aufkommen, während die Sicherheit anderer Institutionen von der öffentlichen Hand finanziert wird. Bislang blieb die Grossrätin mit ihren Bemühungen ohne Erfolg. «Die Regierung ist sich der Brisanz dieser Angelegenheit zu wenig bewusst», sagt Binder. «Die Juden mussten in Europa schon genug Ungerechtigkeit ertragen. Dagegen muss man jetzt endlich handeln.»
Mit der jüngsten Verordnung setzt der Bundesrat diesbezüglich ein klares Zeichen. Als Antwort auf die Vernehmlassung hat der Kanton Zürich seine Unterstützung versichert. Der Grosse Rat des Kantons Basel-Stadt hat sich, bereits bevor der Bund die Verordnung verschickte, für eine Beteiligung von 746 000 Franken pro Jahr an die Sicherheitskosten jüdischer Einrichtungen entschieden. «Nun läge es am Kanton Aargau, da mitzuziehen», sagt Binder. «Zumal wir hier eine langjährige jüdische Tradition haben, auf die wir auch stolz sein können.»
Vom 17. Jahrhundert bis 1866 hatten Juden nämlich einzig in den Gemeinden Endingen und Lengnau im aargauischen Surbtal die Möglichkeit, sich im heutigen Gebiet der Schweiz dauerhaft niederzulassen. Heute werden die Synagogen in diesen beiden Gemeinden nur noch selten benutzt. Speziell aufwendige Sicherheitsvorkehrungen seien deshalb im Surbtal nicht mehr nötig, sagte Jules Bloch, Präsident der Kultusgemeinde Endingen, vor rund zwei Jahren zu dieser Zeitung.
Anders sieht dies in Baden aus, wo es in der Vergangenheit schon zu antisemitischen Handlungen kam, sowohl an der Synagoge als auch auf dem israelitischen Friedhof Liebenfels. «Unbekannte haben auf dem Friedhof Hakenkreuze auf Grabsteine geschmiert und Grabsteine umgeworfen», erzählt Josef Bollag. «Das hat die Angehörigen vollkommen fertiggemacht. ‹Mein Vater hat doch nie jemandem etwas zuleide getan›, lauteten die Reaktionen beispielsweise. Da flossen viele Tränen.» Das sei mittlerweile aber schon einige Jahre her. «Wir haben aufgerüstet, da sollte jetzt niemand mehr reinkommen.»
Ausserdem hat die Kultusgemeinde eigens für den Schutz eine Sicherheitsfirma gegründet. Zu Gottesdienstzeiten bewachen zusätzlich Kantons- oder Stadtpolizisten die Synagoge. Die Zusammenarbeit mit der Polizei funktioniere sehr gut, sagt Bollag. «Aber unsere Aufwendungen übersteigen langsam, aber sicher unsere Möglichkeiten.» Deshalb käme die Unterstützung des Bundes sehr gelegen, wenn sie auch nicht annähernd ausreiche, um die Kosten zu decken. Und genau deswegen bräuchte es nun die finanziellen Mittel des Kantons.
So wie Bollag begrüsst auch Grossrätin Marianne Binder die finanzielle Entlastung durch den Bund: Als «notwendige Massnahme» bezeichnet sie den Entscheid. Jonathan Kreutner, Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG), spricht von einem «Etappensieg». Es sei eine erste finanzielle Entlastung, meint Kreutner, doch der Weg sei noch lange nicht zu Ende: «Es braucht die angekündigte Gesetzesänderung», ist er sich sicher.
Eine Befragung des Bundesamts für Statistik zeigt, dass bis zu zehn Prozent aller Schweizer ein klar antisemitisches Weltbild haben, weitere 20 Prozent hegen Vorurteile gegen Juden. Kreutner findet diese Zahlen bedenklich: «Die Fälle von Antisemitismus manifestieren sich in der Schweiz, aber zum Glück nicht hauptsächlich in gravierender Form in der realen Welt», sagt der SIG-Generalsekretär. «Doch sie zeigen sich auf eine sehr krasse Art und Weise in den sozialen Medien.»
Bei Beschimpfungen im Netz bleibt es aber nicht in allen Fällen. Seit Jahren steht fest, dass jüdische Einrichtungen besonders gefährdet sind. «Die erhöhte Terrorbedrohung in Europa und in der Schweiz hatte die Sicherheitsanforderungen der jüdischen Einrichtungen und Gemeinden stark anwachsen lassen und führte darum auch zu stark steigenden Kosten im Sicherheitsbereich», heisst es in einem Bericht der SIG.
Bis zu sieben Millionen Franken gibt die jüdische Gemeinschaft in der Schweiz jährlich für ihre Sicherheit aus. «Viel zu viel», findet der SIG-Generalsekretär. Die Unterstützung des Bundes sei deshalb dringend nötig. Nun müssten nur noch die Kantone nachziehen: «Ich hoffe, auch der Kanton Aargau ist bereit, seinen Anteil zu leisten», sagt Kreutner. Dann fügt er hinzu: «Alles andere würde mich überraschen.»