Schätzungsweise fünf Prozent aller Schweizer halten den falschen Mann für ihren Vater. Nathalie B. (19) hat im September erfahren, dass sie ein Kuckuckskind ist. Erst musste sie diese Wahrheit begreifen, dann wurde sie neugierig.
Nathalie B.* aus Neuenhof erzählt ihre Geschichte: «Dein Papi ist nicht dein richtiger Vater.» Meine Mutter weinte, als sie mir nach 19 Jahren die Wahrheit sagte.
Ich sass reglos auf meinem Bett und blieb ganz ruhig. Ich hatte zwar niemals ernsthaft daran gezweifelt, das leibliche Kind meines Vaters zu sein, doch dieser Satz erklärte einiges.
Meine Mutter erzählte mir später, dass ich im Alter von vier Jahren bei einem Familienessen plötzlich sagte, dass ich eigentlich zwei Papis habe. Möglicherweise hatte ich dies im Unterbewusstsein schon immer geahnt.
Meine Mutter und ich sassen lange auf meinem Bett und unterhielten uns. Erst nach und nach wurden mir die Folgen dieses einen Satzes bewusst: Meine Schwester ist nur meine Halbschwester, meine Grosseltern sind nicht meine Grosseltern.
Mein leiblicher Vater hat noch zwei Töchter, das heisst, ich habe noch zwei Halbschwestern. Ich kam mir vor wie in einem schlechten Film.
Warum sie mir die Wahrheit gerade jetzt sagte, wollte ich wissen. Der Auslöser sei mein nicht leiblicher Vater gewesen. Bereits seit einem Jahr habe er gezweifelt, ob ich wirklich seine Tochter sei.
Er habe festgestellt, dass ich mich physisch ganz anders entwickelte als alle anderen aus meiner Familie. Im September habe er meine Mutter schliesslich direkt darauf angesprochen und sie bestätigte seine Zweifel.
«Nein, ich bin nicht wütend»
Im ersten Moment war es schwierig, diese Realität zu fassen. Nach einigen Tagen legte sich das Durcheinander in meinem Kopf und ich konnte die Tragweite dieser Wahrheit realisieren.
Erstaunlicherweise hat mich der Gedanke, ein Kuckuckskind zu sein, fortan nicht Tag und Nacht begleitet. Ich wurde oft gefragt, ob ich auf meine Mutter nicht wütend sei. Ich verneinte immer.
Ich weiss, dass ich in ihrer Situation anders gehandelt hätte, doch ich konnte ihre Erklärung, dass sie mich in einer «intakten» Familie hatte aufwachsen lassen wollen, annehmen.
Meine Eltern sind seit mehreren Jahren geschieden. Zu meinem vermeintlichen Vater konnte ich trotzdem eine Beziehung aufbauen und pflege regelmässigen Kontakt zu ihm.
Auch mit meiner Mutter habe ich ein gutes Verhältnis. Das ist wohl der Grund, weshalb ich ihr Lügen entschuldigen konnte. Ich bin der Meinung, dass eine solche Wahrheit die Beziehung nicht zwingend gefährden muss.
In der heutigen Zeit sind Patchwork-Familien an der Tagesordnung und viele Kinder wachsen nicht bei den leiblichen Eltern auf. Unsere Generation ist mit dem Thema vertraut und kann damit umgehen.
Eine wichtige Rolle spielt dabei sicher das Verhalten der Mutter. Ich konnte ihr nur vergeben, weil sie nach dieser Eröffnung aufrichtig mit mir über dieses Thema sprach und mir die Chance gab, meinen leiblichen Vater kennen zu lernen.
«Mir fielen seine blauen Augen auf»
Einige Tage, nachdem ich die Wahrheit erfahren hatte, rief ich meinen leiblichen Vater an. Ich war unglaublich nervös. «Hier ist Nathalie», sagte ich, wir schwiegen kurz. Es war merkwürdig zu wissen, dass dieser Mann am anderen Ende der Leitung mein Vater sein sollte.
Wir beschlossen, uns in zwei Tagen zu treffen. Kurz nachdem ich aufgelegt hatte, rief ich ihn erneut an, und wir verabredeten uns für den gleichen Abend. Ich konnte nicht noch zwei Tage warten.
Wir trafen uns am Zürcher Hauptbahnhof. Im Zug war mir übel vor Nervosität. Wie in Trance lief ich zum Treffpunkt und ich hatte das Gefühl, gleich umzukippen.
Das erste, was ich dachte, als ich meinem Vater gegenüberstand, war: «Ist dieser Mann nicht zu jung, um mein Vater zu sein?» Dann fielen mir seine blauen Augen auf, die genau wie meine sind.
Wir begrüssten uns mit drei Wangenküssen und gingen sogleich los Richtung Tramstation. Wir musterten uns verlegen.
Im Restaurant waren wir zu nervös, um etwas zu essen. Wir sassen uns gegenüber und erzählten aus unseren Leben. Er zeigte mir ein Foto seiner Töchter und schnell wurde mir klar, dass er mich in seiner Familie aufnehmen wollte, worüber ich sehr glücklich war.
Obwohl ich diesen Mann noch nie gesehen hatte, konnte ich nicht nur äusserlich starke Ähnlichkeiten feststellen, sondern auch im Charakter.
Das hat mich sehr erstaunt, denn ich hatte bisher geglaubt, dass Eigenschaften und Einstellungen vor allem über die Erziehung weitergegeben werden und nicht über die Gene.
Inzwischen habe ich auch die Familie meines leiblichen Vaters kennen gelernt und wir pflegen regelmässig Kontakt.
Meinen Vater kennen zu lernen, war sehr aufschlussreich für mich. Ich empfehle jedem Kuckuckskind, das die Möglichkeit dazu hat, diese Chance wahrzunehmen.
Das Verhältnis zu meiner Familie hat sich seit der Lüftung dieses Geheimnisses nicht verschlechtert. Die Tatsache, nicht genetisch verwandt zu sein, bedeutet nicht, dass inzwischen aufgebaute Beziehungen zerstört werden müssen.
*Name der Redaktion bekannt.