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Schon wieder? Schon wieder tötet ein Mann seine Ehefrau. Susanne Nielen, Leiterin Opferhilfe Aargau Solothurn, erzählt von emotionalen Ausnahmezuständen und patriarchalen Frauenbildern.
Frau Nielen, man hört immer wieder von Ehemännern, die ihre Ehefrauen ermorden. Wie kann es zu so einer Tat kommen?
Susanne Nielen: Mich überrascht, dass das nicht noch mehr passiert.
Was?
Wir können noch so tolle Gesetze und Hilfsangebote haben, aber verhindern können wir so was nicht. Wenn ein Mann emotional dermassen ausser Kontrolle gerät, dass er seine Frau umbringen will, dann schafft er es auch.
Aber wie kann es dazu kommen?
Das sind Entwicklungen, die über Monate laufen, bis jemand in so einen absoluten Ausnahmezustand gerät. Viele Täter denken: Wenn ich dich nicht haben kann, dann soll dich niemand haben.
Woher kommen solche Gedanken?
Das sind Macht- und Besitzansprüche: Du gehörst mir. Dahinter steckt oft auch ein sehr verqueres Frauenbild. Ein sehr patriarchales Frauenbild.
Im Fall von Wettingen war es ein Türke, der seine türkische Frau tötete.
Das patriarchale Denken kommt oft bei Migrantenfamilien vor, aber auch bei Schweizer Familien.
Ein patriarchales Frauenbild, was ist das genau?
Der Mann ist der Herr im Haus, der bestimmt, was in der Familie geschieht. Er bestimmt, was die Frau und was die Kinder machen. Und wenn sich das mit der Realität nicht vereinbaren lässt, zum Beispiel, dass die Frau besser Deutsch spricht als er, eine bessere Arbeit hat oder sozial besser integriert ist, kommt dieses Bild ins Wanken. Und dann muss der Mann das mit anderen Mitteln kompensieren – durch vermehrte Kontrolle, durch Eifersucht oder durch Geldentzug.
Und dann kann es zu Gewalt kommen?
Genau. Es gibt aber auch Männer, die in der Kindheit Gewalt als «Problemlöser» erlebt haben und das einfach weiterleben.
Gibt es für die Täter einen Auslöser, der zu einer Tötung führen kann?
Wenn eine Frau entschliesst, sich zu trennen und Gewalt in der Beziehung herrscht, dann ist das ein gefährlicher Moment. Denn wenn eine Frau geht und auch noch die Kinder mitnimmt, hat der Mann nichts mehr zu verlieren. Das muss man sich immer bewusst sein. Auch auf der Seite der Opferhilfe, die diesen Schritt mit den Frauen plant.
Wie gehen Sie von der Opferhilfe konkret vor, wenn sich eine Frau bei Ihnen meldet?
Wir machen eine Gefährlichkeitseinschätzung. War die Gewalt bisher eher verbal, oder ist der Mann schon handgreiflich geworden? Besitzt er eine Waffe? Ist er vorbestraft? Die Einschätzung der Frau ist wichtig. Damit machen wir uns ein Bild über die Massnahmen, die nötig sind. So wissen wir, wie wir die Frauen unterstützen können. Sei es bei der Trennung oder bei rechtlichen Dingen. Wir geben auch psychologische Unterstützung, denn jahrelange Gewalt hinterlässt Spuren in den Seelen der Frauen.
Nach dem Mord in Wettingen, sowie auch bei anderen Tötungsdelikten, kommt oft die Frage: Hätte man das nicht verhindern können?
Nein. Ich muss Ihnen das ganz klar sagen: Das hätte man nicht verhindern können.
Warum nicht?
Der Mann kennt die Frau und ihre Gewohnheiten. Er kann ihr auflauern und findet immer irgendwo Berührungspunkte, wenn er entschlossen ist, sie zu töten.
Das tönt sehr pessimistisch.
Wir können zwar viel für die Opfer tun, aber man muss bei den Tätern ansetzen. Die Täter werden sehr oft mit Samthandschuhen angefasst. Immer noch.
Was müsste man denn tun?
Die Täter müssten schneller in Untersuchungshaft genommen werden. Waffen müssten schneller konfisziert werden.
Bis einmal etwas geschieht, muss also fast schon etwas passiert sein?
Das ist so. Das erleben die Frauen immer wieder. Und das liegt nicht an der Polizei, das liegt an den gesetzlichen Möglichkeiten – am System. Wenn eine Frau sagt, mein Mann ist gefährlich, ich habe Angst vor ihm, ist das noch keine Straftat.
Wo muss man denn ansetzen? Bei der Bildung?
Natürlich! Gerade was die Migrationsebene anbelangt, ist eine Integration wichtig. Aber das ist ja nicht nur ein Problem von Migranten. Das gibts in Schweizer Familien genauso.
In welchen Beziehungen kommt Gewalt eher nicht vor?
In Beziehungen, in der es ein tiefes Menschenverständnis gibt und ein Frauenbild, das als gleichberechtigt angesehen wird. Jeder kennt diese blinde Wut, aber dann zuzuschlagen, braucht nochmals eine Hürde. Wer Gewalt ausübt, überschreitet eine Grenze, und nicht jeder ist bereit, diese Grenze zu überschreiten.
Wenn eine Frau einen Mann kennenlernt, merkt sie doch schon früh, dass er zu Gewalt neigt.
Viele Frauen berichten, dass die Männer wie zwei Gesichter haben. Sie sind nett und freundlich mit den Leuten und dann drehen sie sich um und schlagen die Frau. Oft wird der Frau deshalb gar nicht geglaubt, dass sie geschlagen wird.
Als Aussenstehende kann man nicht nachvollziehen, warum eine Frau ihren gewalttätigen Mann nicht einfach verlässt.
Die Frauen haben Gründe, warum sie bleiben. Finanzielle Abhängigkeit ist ein Faktor. Die Männer suchen die Schuld beim Opfer: Wenn du jetzt nicht so viel Geld ausgegeben hättest, dann hätte ich nicht ausflippen müssen. Oder wenn eine Frau stets nörgelt. Oft sind es Kleinigkeiten, die Gewalt auslösen. Aber: Nichts rechtfertigt die Gewalt – nichts. Der Mann muss lernen, anders damit umzugehen. Viele Frauen versuchen, sich zu verändern und sich so zu verhalten, dass sie nicht mehr geschlagen werden. Aber das ist gar nicht möglich, er findet immer einen Grund, sie zu schlagen – das ist die sogenannte Gewaltspirale. Nach der Gewalt kommt es zu einem entschuldigenden Verhalten, sie verzeiht ihm. Doch dann geht es wieder von vorne los.
Die Frauen, wie auch die Männer, kommen aus dieser Gewaltspirale kaum alleine raus.
Das ist ähnlich wie bei einer Sucht. Wenn die Frau nicht bereit ist, etwas zu verändern, dann verändert sich nichts. Und wenn der Mann nicht sieht, dass er ein Problem hat, wird sich an der Gewalt nichts ändern. Und das machen wir den Frauen auch klar. Die Frauen hoffen, dass der Mann sich ändert. Aber er sucht die Gründe für Gewalt immer bei anderen, aber nicht bei sich selbst.