Obersiggenthal ein Jammertal? Ein 86-jähriger Polemiker verschickt ein Massen-Schmähmail gegen die Gemeinde – und stürzt den Fusionsverein «Traktandum 1» in eine tiefe Krise.
Rainer Schumacher ist 86 Jahre alt, er war einst erster Einwohnerratspräsident in Obersiggenthal, von Beruf Rechtsprofessor und vor allem, wie er über sich selber halb schmunzelnd, halb ernst sagt, «rebellisch veranlagt». Das liege wohl in seinen Genen oder zumindest an seiner Herkunft, schon sein Urgrossonkel liess sich nicht alles gefallen; dieser führte als liberaler Luzerner Katholik einen Freischarenzug an, wofür er zum Tode verurteilt wurde, ehe er in letzter Sekunde Zuflucht im Aargau fand. Alleine Veranlagung und Herkunft machen Schumacher also zum Querdenker, doch damit nicht genug: Seine Frau stammt aus dem Wallis, dem Kanton, in dem er viel Freizeit verbringt und wo die Helden meist auch Rebellen sind (Ex-Skistar Roland Collombin und FC-Sion-Präsident Christian Constantin sind nur zwei Beispiele). Zusammengefasst lässt sich konstatieren, dass man aufrührerischer als Schumacher wohl nicht sozialisiert werden kann. So verwundert es nicht, dass er diese Woche nur zwei Sätze benötigte, um einen «Shitstorm» beziehungsweise die grösste Krise in der Geschichte des Vereins «Traktandum 1» auszulösen, der sich für eine geeinte, starke Region Baden und vor allem auch Zusammenschlüsse von Gemeinden einsetzt.
Vereinsmitglied Schumacher war so freundlich, die Einladung von «Traktandum 1» zur bevorstehenden Vereinsversammlung zu beantworten, wobei er seine Mail-Antwort nicht nur an den Absender, sondern versehentlich an alle Eingeladenen schickte, auch die AZ-Redaktion. Alle, das sind in diesem Fall vor allem auch viele Gemeinderäte in der Region. Schumacher schrieb: «Ich werde mich am 8. Mai 2018 bemühen, derart rechtzeitig aus dem Wallis heimzureisen, dass ich an der Generalversammlung und am Referat teilnehmen kann.» Und dann die Sätze, die dazu führten, dass seine Antwort vom Vereinspräsidenten als «Schmähbrief» klassifiziert wurde: «Der Bevölkerung sind unverzüglich konkrete Fusionsprojekte zur Abstimmung zu unterbreiten. Ich schliesse es nicht aus, dass Kirchdorf sich vom (nicht nur finanziell) maroden Obersiggenthal trennt und Untersiggenthal oder Turgi anschliesst.»
Für Ortsunkundige: Die 8500-Einwohner-Gemeinde Obersiggenthal, Nachbar von Baden, besteht aus den drei Ortsteilen Rieden, Nussbaumen und Kirchdorf, wobei zwischen den letzten beiden Gebieten eine Siedlungslücke besteht. Schumacher, in Kirchdorf wohnhaft, sagt angesprochen auf seine E-Mail: «Ich bin nicht zufrieden mit der Politik Obersiggenthals in den vergangenen Jahren. Wohl hat ein Kollege nicht unrecht, der mir kürzlich sagte, Obersiggenthal sei ein Jammertal.» Der Einwohnerrat sei dem Gemeinderat hörig, kritisiert Schumacher, um zu erklären: «Im Grunde bin ich ein brennender Befürworter einer Regionalstadt Baden, aber leider tut sich viel zu wenig. Meine Aussage, Kirchdorf soll sich der Nachbargemeinde Untersiggenthal oder Turgi anschliessen, war ein Gedankenanstoss, dass sich unbedingt etwas tun muss in der Region.» Es entspricht dem Wesen Schumachers, dass er seinen Input zwar als Gedankenanstoss auffasst, aber darüber hinaus an einer Urnenabstimmung dem Anschluss von Kirchdorf an Untersiggenthal oder Turgi selbstverständlich zustimmen würde.
Kaum hatte er seine E-Mail abgeschickt, folgten Dutzende weitere Nachrichten – jeweils ebenfalls an alle gerichtet. Offenbar gingen nicht wenige Gemeinderäte davon aus, dass Schumacher ein Referat halten würde, wohingegen er in Tat und Wahrheit nur als Mitglied eingeladen wurde. «Wenn Ihre Referenten die Gemeinde Obersiggenthal als marod bezeichnen, denke ich, dass Ihre Fusionsgespräche auf einer falschen Schiene laufen», schrieb ein Behördenmitglied, «bitte verschonen Sie mich mit weiteren Informationen und Einladungen für eine starke Region Baden-Wettingen.»
Aus Sicht des Vereins fast noch schlimmer fühlt es sich wohl an, wenn Politiker aus der Region «Traktandum 1» nicht einmal kennen: «Aus der zugestellten Mail ist nicht ersichtlich, um was für einen Verein es sich handelt und warum ich als Gemeinderat zu einer Vereinsversammlung eingeladen werde. Bitte streichen Sie mich unverzüglich vom Verteiler.»
Für die vielen Bitten um Streichung vom Mailverteiler – auch Aargauer Regierungs- und Ständeräte wollen keine Nachrichten mehr von «Traktandum 1» – wurde Schumacher als Schuldiger ausgemacht. Der Vereinspräsident schrieb an alle: «Es tut mir ausserordentlich leid, dass Sie in den letzten Stunden mit unzähligen Mails wegen unserer Einladung zur Vereinsversammlung belästigt wurden. Auslöser dieses gesamten «Shitstorms» ist die Antwort von Rainer Schumacher, welcher mit der Funktion «Antwort an alle» einen undifferenzierten Schmähbrief gegen Obersiggenthal verschickte. «Traktandum 1» distanziert sich vehement in aller Form vom Inhalt dieser Mails und des Missbrauchs der Mail-Adressen unseres Vereines.»
Am Ende des Tages lässt sich festhalten: Die rebellische Nachricht Schumachers führte immerhin dazu, dass auf Behördenebene offen und ehrlich über Fusionen diskutiert wurde. Untersiggenthals Gemeindeammann Marlène Koller (SVP) antwortete an alle: «Auch der Gemeinderat Untersiggenthal hat früher schon gebeten, von der Einladungsliste von ‹Traktandum 1› gestrichen zu werden. Ich bin froh zu sehen, dass sich auch andere Behördenmitglieder von Ihren Mails belästigt fühlen.» Untersiggenthal habe sich anlässlich der Legislaturplanung zu Beginn dieses Jahres klar für seine Eigenständigkeit entschieden. «Wo eine Zusammenarbeit sinnvoll ist, leben wir diese schon längst und stehen auch neuen Projekten positiv gegenüber.»
Der Vereinspräsident schrieb Rainer Schumacher noch eine persönliche Mail-Nachricht: «Mit Ihren sehr deplatzierten und undifferenzierten Aussagen zu Obersiggenthal haben Sie der Idee von ‹Traktandum 1› in den letzten Stunden vor allem viel geschadet, viel Ärger und viele Austritte provoziert. Ich bitte Sie daher vehement, unserer Vereinsversammlung fernzubleiben.»
Dieser Aufforderung kommt Schumacher nach, er gab zudem den Austritt aus dem Verein bekannt. Ohne sich daran zu stören, wie es sich für einen Rebell gehört: «Dass ich ohne Absicht einen Wirbel veranstaltet habe, freut mich wie ein Spitzbub.»