Eine Aargauer All- Star-Band um Christoph Baumann trifft auf den historischen «Robin Hood des Aargau». Der Blut- und Boden-Stoff scheint für die Bühne ein gefundenes Fressen, doch sie erweist sie als Diät. Mit einer Ausnahme.
Was für ein Geschenk, was für ein Wunderkasten! Das verjüngte Kurtheater Baden hat am Wochenende seine Pracht entfaltet. Zum ersten Mal im Vollbetrieb, zum ersten Mal ein volles Haus, die beiden architektonischen Highlights standen vor ihrer Bewährungsprobe.
Sie reüssierten, und sogar mit Bestnote: Das alte sowie das neue Foyer entpuppte sich als (Baum-)Gipfel-Erlebnis, als Kultur- und gleichzeitig als Naherholungsgebiet, zwei Räume verwachsen mit dem Kurpark. Das grösste Theater im Kanton ist auch das grünste und luftigste Theater im Kanton.
Zur Eröffnung der Saison gab es entsprechend viel künstlerische Luft – Luft nach oben allerdings. Das Musiktheater «Matter, Justizmord aus Notwehr?», eine saftige Schwarte aus der Lokalgeschichte des Aargaus, zündete den Startschuss. Doch man pfefferte zumeist - ins Leere. Die künstlerische Ambition, mit einem spartenübergreifenden Zugriff eine Heldengeschichte zu erzählen oder doch zu paraphrasieren, blieb in ihrer Absicht stecken. Erstaunlich eigentlich, der Erfolg des Abends schien im Vorfeld bereits eine ausgemachte Sache zu sein.
Eine Aargauer All-Star-Crew sucht nach ihrer Version des gleichnamigen Aargauer Star-Ein- und Ausbrechers. Bernhart Matter (1821–1854) war der letzte Mensch, der auf der Richtstätte Fünflinden in Lenzburg enthauptet wurde. Auf der Bühne nun finden sich zum Urteil nach dem Urteil ein: hier der Musiker Christoph Baumann, eine Adhoc-Band, zwei Sprecherstimmen, und dort der ikonische «Robin Hood des Aargaus» als Märtyrer, Don Juan, eine schillernde Legende.
Baumanns Ziel war es, und Nils Torpus’ Regie bietet dazu Hand, den Helden «zu befreien». Doch wovon? Von den wilden Fantasien, die sich um ihn ranken und ihn stilisieren? Dazu müsste das Publikum allerdings zunächst in die Lage gebracht werden, die Vorgeschichte zu verstehen.
Ebenso gälte es, die Zeit und die politischen Umstände, in der Matter gelebt hat, zu begreifen.. Doch der Abend verweigert beides. Die Verunklärung der inhaltlichen Motive mehrt sich mit dem Eindruck, der im Laufe der Inszenierung an Gewicht gewinnt: Der Fall Matter soll offensichtlich Anlass sein, um die überzeitlichen Themen Todesstrafe und Justiz auf einen moralischen Richtstuhl zu stellen.
Spartanisch nimm sich die Bühne (Nic Tillein) aus. Christoph Baumann am Klavier, Vito Cadonau hinterm Bass, Lukas Mantel am Schlagzeug. Moderner Jazz legt die Tonspur. Weitergesponnen und verfeinert wird sie von der Sängerin Isa Wiss und dem Schauspieler Herwig Ursin mit Dialekt-Liedern und kurzen szenischen Intermezzi. Ursins Selbstversuche allerdings mit schweren Eisenketten, welche Matter angelegt worden waren, sind ironisch bis zur Schmerzgrenze. Soll man darob ärgerlich sein, darf man sich fragen: Wozu, bitteschön?
Im Bühnenhintergrund ragt sodann eine Leinwand, auf der das Leben Matters in einer fiktiven Dimension überzeichnet wird: Der Aargauer als Supermann in Amerika, das er im echten Leben nicht erreichte, befreit fliegt er über Suburbs; Besäufnisse mit Kumpanen in Aargauer Kneipen, tanzender Käse, ein Schinkenballett: Matter, allem Sinnlichen zugeneigt, soll auf seinen Beutezügen Lebensmittel geraubt und an seine Helfershelfer verteilt haben. Das leuchtet ein, wem es einleuchten kann, ein Zugewinn bleibt der Witz trotzdem nicht.
Über den Mehrwert der meisten Videobilder (Kevin Graber) kann man sich streiten. Unwidersprochen überzeugend ist allerdings die visuelle Utopie des Schwerenöters plus Anhang, die glücklich nach Amerika entkommen sind – und dort als Familie Panzerknacker «New Muhen» gründen. Matter in Entenhausen.
Die Fiktionalisierung des Helden hat zwischen Buchdeckeln bereits Früchte getragen. Der Comiczeichner Reto Gloor und der Autor Markus Kirchhofer haben mit ihrem zweibändigen «Matter»-Comic diesbezüglich etwas geleistet, was man szenisch und musikalisch erst einmal überbieten muss. Kirchhofer als Teil der künstlerisch Verantwortlichen des Projekts wird wissen, dass er die Kraft seiner Bücher mit der Bühnenversion nicht erreicht.
Ein verlorener Abend, eine vertane Chance also? Keinesfalls. Eine Episode lohnt den teils kopflosen Ritt durch die Geschichte(n). Auf einer nicht enden wollenden Liste werden dem Publikum sämtliche Hingerichteten in der Zeit von 1503 bis 1854 auf der Lenzburger Richtstätte Fünflinden vor Augen geführt. Kinder, viele Frauen der Hexerei verdächtig, die Aufzählung ist peinvoll lang. Den Schluss bildet Bernhart Matter. Die Erinnerung an ihn steht für das Leid jener, die vergessen sind.
«Matter, Justizmord aus Notwehr?» 16. November, Reithalle, Aarau.