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Baden
Ein junger Mann griff in der Haft zwei Polizisten mit einer Zahnbürste an. Der Staatsanwalt forderte Sicherheitsverwahrung. Vor dem Bezirksgericht Baden kam es zum Showdown.
Eine tickende Zeitbombe, die jederzeit losgehen könne, sei er, sagte Staatsanwalt Marc Dellsperger in seinem Plädoyer. Und fügte bedeutungsschwer hinzu: «Jede beliebige Person könnte Opfer werden.» Er sprach über den 25-jährigen Kevin (Name geändert), der sich diese Woche vor dem Bezirksgericht Baden für zehn Anklagepunkte zu verantworten hatte.
Seit Mai 2017 befindet er sich in Haft. Kevin war während eines nächtlichen Einbruchs in die Landi in Oberrohrdorf auf frischer Tat ertappt worden. Das war aber nur einer von acht Diebstählen unter dem Punkt «gewerbsmässiger Diebstahl», für die er angeklagt war. In den zehn Seiten der Anklageschrift waren noch neun weitere Straftatbestände zu finden, darunter mehrfache Sachbeschädigung, mehrfacher Hausfriedensbruch sowie Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte.
Einige der Delikte wirkten auf den ersten Blick eher harmlos. Nicht aber das, was im Bezirksgefängnis Baden vorgefallen ist: Im Juli 2017 drückte Kevin den Zellennotruf und gab vor, suizidgefährdet zu sein. Er hatte sich mit einem Bleistift selbst Stichverletzungen am Hals zugefügt. Zwei Vollzugsbeamte öffneten die Zellenluke und begutachteten die Wunden. Um sicherzugehen, dass keine grössere Gefahr für die Gesundheit von Kevin bestand, öffnete einer der Beamten die Zellentür. Der Angeklagte ging unvermittelt auf ihn los und schlug auf ihn ein. Der Beamte konnte sich hinter die Tür retten, worauf sein Kollege mit Schlägen eingedeckt wurde. Am Ende gelang es ihnen aber doch, Kevin zu überwältigen. Bei seinem Angriff hielt er laut Anklageschrift ein Stück einer Kunststoff-Zahnbürste in der Hand, das er zuvor am Boden angespitzt hatte. Damit fügte er einem der Beamten Wunden am Kopf zu, die genäht werden mussten.
«Gezielt, geplant, kaltblütig, ohne jegliche Not», sei der Angeklagte vorgegangen, war sich Staatsanwalt Dellsperger sicher. Er forderte für alle Delikte eine Freiheitsstrafe von acht Jahren, verwies aber auf die leicht verminderte Schuldfähigkeit des Angeklagten – attestiert vom Gutachter, der sich zu Beginn der Verhandlung zum Gesundheitszustand des Angeklagten geäussert hatte. In zwei Gutachten von 2015 und 2017 war beim Angeklagten eine dissoziale Persönlichkeitsstörung mit paranoiden Züge festgestellt worden. Einer der hervorstechendsten Charakterzüge von Kevin sei, dass Personen zu Feindbildern werden, wenn sie ihm gegenüber nicht kooperativ seien, so der Gutachter. Er habe das «quasi mit auf die Welt bekommen». Wenn er unter Druck sei, könne er nicht angemessen reagieren und versuche, seine Probleme auch mit illegalen Mitteln zu lösen: «Eine charakterliche Fehlentwicklung.» In der Haft hätte ein «Haftkoller» dazu geführt, dass er rauswollte, erklärte Kevin seinen Angriff: «Ich war mir die Haft nicht mehr gewohnt und wollte ausbrechen.»
Der Angeklagte habe mit diesem Angriff bewiesen, dass er fähig ist, Menschen zu verletzen, sagte der Staatsanwalt im Plädoyer. Die «bemerkenswerten Feststellungen des Gutachters», die er in dieser Klarheit selten gehört habe, so Dellsperger, sprächen dem Angeklagten eine Massnahmefähigkeit ab. Deshalb forderte er für Kevin eine ordentliche Verwahrung: «Es handelt sich hier um einen psychisch gestörten jungen Mann und seine Taten stehen mit seiner psychischen Störung in Zusammenhang.» Es gehe nun darum, die Bevölkerung vor ihm zu schützen.
Gerichtspräsidentin Gabriella Fehr fragte den Gutachter im Gerichtssaal, was es denn brauche, um den Angeklagten wieder gesellschaftsfähig zu machen. Die Antwort des Gutachters fiel wenig positiv aus: «Er müsste in einer für ihn idealen Welt leben.» In einer Welt, die seine Bedürfnisse erfüllt.
«Und das kann mit keiner Massnahme erreicht werden», so Staatsanwalt Dellsperger. Für Kevin wurden in der Vergangenheit schon einige Massnahmen angeordnet, doch keine war erfolgreich. Er hat nie gelernt, für sich selbst zu sorgen, hat kaum je für ein eigenes Auskommen gesorgt und auch nie wirklich nach gesellschaftlich akzeptierten Regeln gelebt.
Kevins Biografie ist von Brüchen geprägt. Nach der Scheidung seiner Eltern mit 12 lebte er bis 14 beim Vater und kam dann zu Pflegeeltern. «Cannabis und Alkohol» seien die Gründe dafür gewesen, erklärte der Angeklagte. Kurz darauf wurde er nach Effingen ins Schulheim überwiesen. Hier machte er seinen Schulabschluss. Danach kam er ins Jugendheim auf der Festung Aarburg, aus dem er fünfmal ausriss. Auch nachfolgende Aufenthalte in anderen Institutionen waren nicht von Erfolg gekrönt. Zwei Ausbildungen brach er ab. Als er nach dem Einbruch in Oberrohrdorf verhaftet wurde, hatte Kevin keinen festen Wohnsitz und lebte von Gelegenheitsdiebstählen. Das Bezirksgericht sprach ihn am Ende deshalb auch wegen «gewerbsmässigem Diebstahl» schuldig, vor allem aber der mehrfachen schweren Körperverletzung. Kevin muss eine Freiheitsstrafe von fünf Jahren verbüssen. Die Strafe wird zugunsten einer stationären Behandlung in einer geschlossenen Einrichtung aufgeschoben, besser bekannt als «kleine Verwahrung».
Gerichtspräsidentin Fehr widersprach dem Verteidiger, der in seinem Plädoyer den Antrag für Sicherheitsverwahrung in keiner Weise erfüllt sah. Richterin Fehr und die Laienrichter fanden, dass der Vorsatz für eine schwere Körperverletzung sehr wohl gegeben sei. Fehr sagte, es sei nur dem Zufall zu verdanken, dass es im Bezirksgefängnis nicht schlimmer gekommen sei. Die Sicherheitsverwahrung sei nicht ausgesprochen worden, weil psychische Störungen behandelbar seien und «weil Sie noch so jung sind». Aber, so sagte sie eindringlich zum Angeklagten: «Das ist Ihre letzte Chance!»