Neuenhof
«Netflix-Tante» kann das Vorlesen nicht sein lassen – warum Nationalrätin Marianne Binder einen Stopp an der Primarschule einlegt

Die Badener Nationalrätin Marianne Binder-Keller hat im Wahlkampf die Primarschule Neuenhof besucht. Sie las aus einer Geschichte über den neuen Schüler, der mit Sturmmütze in die Klasse kommt – und verabschiedet sich mit einem «Staatsauftrag».

Leandra Sommaruga
Drucken
Wer ist der neue Schüler unter der Sturmmütze? Nationalrätin Marianne Binder-Keller liest an der Schule Neuenhof.

Wer ist der neue Schüler unter der Sturmmütze? Nationalrätin Marianne Binder-Keller liest an der Schule Neuenhof.

Bild: Alex Spichale

«Kennt ihr das, wenn ihr nicht laut lachen dürft und ihr innerlich aber fast platzt?», fragt Marianne Binder-Keller in die Runde – eine rhetorische Frage. Um sie versammelt sitzen im Halbkreis rund 60 Schülerinnen und Schüler auf dem Boden – eine 4., 5. und 6. Primarklasse –, oder liegen auf dem Bauch mit einem Malbuch vor sich und lauschen der Geschichte, die ihnen die Badener Nationalrätin vorliest.

In Trudi Gersters Rolle

Die Erzählung, das Binder-Keller mitgebracht hat, heisst «Tommy Mütze». Es spielt in Südafrika, handelt von einem neuen Schüler, der mit Sturmmütze in die Schule kommt – und alle fragen sich: Was verbirgt sich darunter?

Auf Wahlsprüche verzichtet sie – die meisten Anwesenden sind sowieso minderjährig. Lieber erzählt sie, wie sie früher selbst in Baden, im Schulhaus Ländli, unterrichtete und ihren Kindern gerne vorlas. Am liebsten: das Junglebuch und Dumbo, der fliegende Elefant.

Die Erzählung, das Binder-Keller mitgebracht hat, heisst «Tommy Mütze».

Die Erzählung, das Binder-Keller mitgebracht hat, heisst «Tommy Mütze».

Bild: Alex Spichale

Tatsächlich erweist sich die Mitte-Nationalrätin, die im Herbst für den Ständerat kandidiert, als begnadete Vorleserin. Sie setzt sich die Brille auf, bleibt aber auf ihrem Stuhl sitzen – «nicht wie Trudi Gerster im Schneidersitz auf dem Tisch», wie Binder-Keller vor der Veranstaltung noch gewitzelt hatte.

In angenehmem Tempo liest sie die Geschichte und geht in ihrer Rolle auf, beispielsweise als sie die Lehrerin beschreibt, die Drachendame. Diese heisse so, weil sie sich immer auf die Brust klopfte und von ihrem Puder eine Wolke aufstob, wenn sie verärgert war. Die Nationalrätin klopft sich dabei auf die Brust – und prompt kann man sich die Puderwolke vorstellen.

Als die Kinder in der Geschichte sich endlich trauen zu fragen, weshalb Tommy diese Sturmmütze trägt und mit der Antwort «weil» vertröstet werden, ist Binder-Keller mit Vorlesen am Ende und sagt, jetzt müsse sie selbst gleich nach Hause rennen, weil sie wissen wolle, was unter dieser Mütze sei. Und sie ordnet den Lehrern an, dies auch ihren Schülerinnen und Schülern aufzutragen – ein «Staatsauftrag» sei das.

«Über Zoom während der Sondersession organisiert»

Es ist nicht das erste Mal, dass Binder-Keller am Schweizer Vorlesetag liest. In der Coronazeit habe sie an diesem Event mal in Baden gelesen. Dieses Jahr sei sie wieder angefragt worden, doch den Ort, wo sie lesen würde, musste sie selbst organisieren. So sei es ein glücklicher Zufall gewesen, dass die Schule Neuenhof für diesen Tag etwas planen wollte.

Um Marianne Binder sassen im Halbkreis rund 60 Schülerinnen und Schüler auf dem Boden.

Um Marianne Binder sassen im Halbkreis rund 60 Schülerinnen und Schüler auf dem Boden.

Alex Spichale / BAD

Den Anlass organisiert hatten vier Studierende der Pädagogischen Hochschule FHNW: Lukas Fleischmann, Janina de Boer, Nima Zobrist und Marcel Meier. In ihrem Partnerschuljahr, das sie an der Schule Neuenhof absolvieren, konzentrieren sie sich auf das Thema Lesesozialisation. Über mehrere Wochen hatten sie dazu Lese-Znünis und Diskussionsrunden organisiert, über Themen wie Liebe oder Freundschaft. Diese Lesung sei nun der Abschluss ihres Projekts.

Nach dem Vorlesen schwärmt die Nationalrätin von der Schule Neuenhof und vom Lesen, sie sei inzwischen ja auch eine «Netflix-Tante» geworden: Downton Abbey, Outlander oder was es halt so gibt. De Boer wirft ein, um Englisch zu lernen, seien Serien hilfreich, doch in Neuenhof, wo viele Kinder Deutsch als Zweitsprache lernten, sei Lesen essenziell.

Für die Planung des Events waren allerdings alle froh über die neuen Medien. So hätten sie die Lesung über Zoom während der Sondersession zur Credit Suisse organisiert.

Ganz unpolitisch scheint die Veranstaltung für die Nationalrätin jedoch nicht. Binder-Keller gibt sich kinderfreundlich, als Mutter, Grossmutter, ehemalige Lehrerin und Kabarettistin; und überhaupt ist Wahlkampf. So gäbe es derzeit keinen Tag, an dem sie keine politische Veranstaltung habe, wie die Politikerin sagt.