Theater über Emilie Kempin-Spyri, die erste Schweizer Juristin, feierte Vorpremiere im Teatro Palino – passend dazu waren im Publikum nur Frauen anwesend.
Vor bald 50 Jahren führte die Schweiz das Frauenstimmrecht ein. Deshalb ist es an der Zeit, sich mit den weiblichen Identitätsfiguren auseinanderzusetzen. Genau dies tut das Theaterstück mit dem Titel «Eine Emilie Kempin-Spyri. Alle Emilie.» Es feierte vergangenes Wochenende im Teatro Palino seine Vorpremiere.
Die Jugendschriftstellerin Johanna Spyri hat 1879 mit ihrem Roman «Heidi» das bekannteste Werk der Schweizer Literatur geschaffen. Heidi stellt auch gegenwärtig eine Identifikationsfigur für die Schweiz dar – und dies weltweit.
Doch: Heidi wehrt sich nie gegen Fremdbestimmung und geniesst stets ein Leben in Freiheit, indem sie für immer Kind bleibt. Ist diese Identifikationsfigur noch zeitgemäss?
Dieser Frage geht das Theaterstück nach. Vergangenes Wochenende fand der Auftritt im Teatro Palino in Baden statt, welches zusammen mit dem Supergiuteatro für die Produktion verantwortlich war. Die Tessinerin Sara Flaadt ist Regisseurin des Stücks.
Dies ist auch der Grund, weshalb das Projekt in allen vier Landessprachen produziert wird. Im Mittelpunkt des Theaterstücks steht die Nichte von Johanna Spyri: Emilie Kempin-Spyri. Dabei handelte das Stück nicht nur von einer Emilie, sondern von mehreren:
Der jungen, hoffnungsvollen Emilie (Vanda Beffa), der älteren, hoffnungslosen Emilie (Sabine Fehr) und zwei Rechtsforscherinnen (Jasmin Mattei und Adele Raes), die die Emilies von heute verkörpern.
Die Botschaft: In allen Frauen steckt etwas Willenskraft und Selbstbestimmung Emilies. Während des 90-minütigen Stücks wird die Geschichte der Schweizerin erzählt. Parallel dazu kommentieren Rechtsforscherinnen die politischen und gesellschaftlichen Normen ihrer Lebzeit kritisch.
So beispielsweise, dass es im Schweizer Gesetz «mehr Artikel über Kulturgüter und weniger über Gleichberechtigung» gäbe.
Emilie Kempin-Spyri war bereits 32 Jahre alt und Mutter dreier Kinder, als sie 1885 als erste Schweizerin in Zürich ein Jura-Studium begann. Zwei Jahre später promovierte sie als Juristin. Doch in ihrem Beruf war sie nicht tätig, denn sowohl das Anwaltspatent als auch die Zulassung als Privatdozentin wurden ihr aufgrund ihres Geschlechts verweigert.
Um ihre Leidenschaft trotzdem ausüben zu können, wanderte Emilie mit ihrer ganzen Familie nach New York aus, denn dort konnten sich Frauen bereits seit 1886 in die Gerichtshöfe einbringen. In der Stadt, wo bekanntlich Träume wahr werden, gründete die Schweizerin eine Rechtsschule für Frauen.
«Emilie war eine emanzipierte Konservative», beschreibt eine der Rechtsforscherinnen die Juristin, «sie lebte ausserhalb von allem: ausserhalb der Gesellschaft und deren Normen.» Doch das stimmt nur bedingt: Einerseits prägten Emilie Schuldgefühle, da sie stets das Gefühl hatte, ihre Familie zu vernachlässigen.
Zudem wurde Emilie von ihrer Familie verstossen, nicht zuletzt von ihrer Tante - jener Frau, die mit Heidi eine freiheitsliebende und emanzipierte Figur schuf.
Als Emilie aus familiären Gründen 1891 in die Schweiz zurückkehrte, wurde sie in Zürich nun doch als Privatdozentin zugelassen. Dank ihrem Einsatz liess der Kanton Zürich 1898 auch Frauen zur Advokatur zu.
Trotz einer physischen Erkrankung wurde sie gegen ihren Willen in die Psychiatrie Friedmatt eingewiesen. 1901 starb sie im Alter von 48 Jahren einsam und verarmt in der damaligen Basler Irrenanstalt.
Das Publikum war von der Geschichte und deren theatralischen Umsetzung begeistert: «Es ist erschreckend, dass das Thema 120 Jahre später noch immer aktuell ist», sagt Linda Schär aus Zürich. Nach wie vor herrsche in der schweizerischen Gesellschaft ein Ungleichgewicht zwischen Mann und Frau. Ausserdem sei es erstaunlich, dass nur Frauen die öffentliche Probe besuchen gingen.
Bevor Emilie auch im Theaterstück stirbt, tanzen die Darstellerinnen als Akt der Rebellion auf der Bühne. «Ich, die nie Rechte hatte, tanze darauf», meint Emilie. «Zwischen einem Gesetz und Kodex, zwischen einem Lächeln und Studium ist Emilie Kempin-Spyri in Vergessenheit geraten», resümieren die beiden Rechtswissenschaftlerinnen.
Genau dieser Vergessenheit möchte das Theaterstück anlässlich der 50 Jahre Frauenstimmrecht Schweiz entgegenwirken.