Wildwest im Aargau
Prozess nach Schiesserei beim Baregg: Kosovare muss sechs Jahre ins Gefängnis

Vor gut drei Jahren schoss ein Kosovare in der Nähe von Baden auf einen Landsmann, der im Auto sass. Heute verurteilte ihn das Bezirksgericht Baden wegen versuchter vorsätzlicher Tötung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren. Beim Prozess kam es zum Eklat: wegen massiven Beleidigungen wurde das damalige Opfer aus dem Saal verwiesen.

Stefania Telesca
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Eine der drei Kugeln verursachte einen Kurzschluss im Mercedes, das Auto brannte völlig aus.

Eine der drei Kugeln verursachte einen Kurzschluss im Mercedes, das Auto brannte völlig aus.

Kantonspolizei Aargau

«Sie sind ein Hurensohn, Herr Anwalt.» Mit diesen Worten schafft es der Privatkläger Liridon (alle Namen geändert) dass ihn das Bezirksgericht Baden nach nur zwei Stunden aus der Verhandlung verbannt. Dabei ist Liridon eigentlich als Opfer im Saal. Der Kosovare, der derzeit wegen einer anderen, unbekannten Geschichte selber in Haft sitzt und in Handschellen zum Gericht gebracht wird, entkam vor drei Jahren nur knapp dem Tod.

In einer Märznacht 2016 eskalierte ein lang andauernder Streit zwischen Liridon und seinem Cousin Kushtrim. Dieser feuerte in jener Nacht in Spreitenbach drei Schüsse auf das erst stehende, dann fahrende Auto seines Cousins ab. Liridon fuhr davon. Sein Mercedes ging kurze Zeit später in Flammen auf. Liridon rannte zu Fuss weiter um sein Leben, sprang nach dem Bareggtunnel über einen Wildschutzzaun , um danach wie ein Fussball einen Hang herunter zu rollen, wie er erzählt.

Familienzusammenkunft im Saal

Die Vorgeschichte und die Beziehung der beiden Kosovaren sind kompliziert. Ein weiterer Cousin – Kushtrims jüngerer Bruder Argjent – ist mit angeklagt, weil er das Auto lenkte, in dem der Schütze zum Tatort fuhr. Die erste Verhandlung im November wurde vertagt, weil Argjent fehlte, er war und ist noch immer untergetaucht.

Alle drei Cousins haben zudem weitere Straftaten auf dem Kerbholz. Im Gerichtssaal sind aussergewöhnlich viele Menschen,
28 an der Zahl. Ein Drittel davon sind Angehörige: Tanten, Ehefrauen, Onkel, Neffen. Alle sind miteinander verwandt. Es ist eine Familienzusammenkunft der unangenehmeren Art.

Kushtrim, heute 46 Jahre alt, führte früher ein Restaurant, das in finanzielle Schieflage geriet. Liridon – der vermeintlich erfolgreiche Geschäftsmann in der Familie – sollte das Lokal retten. Stattdessen trieb er Kushtrim aber endgültig in den finanziellen Ruin. «Die Vorgeschichte ist bedeutend und tragisch», sagt Kushtrims Verteidiger Urs Oswald.

Liridon habe vorgegeben, seinem Cousin unter die Arme greifen zu wollen, stattdessen habe er diesen ausgenutzt, das Lokal übernommen und Fahrzeuge auf den Namen von Kushtrim gekauft, so Oswald. Er sagt, Liridon habe ein Leben in Saus und Braus geführt, dies aber auf Kosten anderer.

Er habe Schulden, seine Betreibungen beliefen sich auf 123 000 Franken.
Liridon sei jedem Kontaktversuch von Kushtrim ausgewichen. «Mein Klient wollte ihm Druck machen», sagt der Verteidiger, was Kushtrim bei der Befragung bestätigt: «Ich wollte, dass er aussteigt und endlich mit mir redet.»

Die zweite Chance

Er habe seinem Cousin nur helfen wollen, sagt Liridon, als ihn Gerichtspräsident Daniel Peyer befragt. «Er ist ein Idiot, dass er mich beschuldigt. Ich sitze hier als Opfer und bin fair zu ihm», sagt der 40-jährige Kosovare, der bei seinen Aussagen wie ein Prediger wirkt. Sein Cousin Kushtrim habe nicht die Absicht gehabt, ihn zu erschiessen, da ist sich Liridon sicher. «Er wollte mich einschüchtern und die Situation ist für uns beide ausser Kontrolle geraten.»

Liridons Antworten auf die Fragen des Richters wirken bedacht und theatralisch zugleich. Immer wieder zeigt er bei der Befragung mit erhobenem Finger auf seinen Cousin. Kushtrim hingegen meidet den Blickkontakt.

«Ich glaube, er sollte die Chance haben, seinen Fehler einsehen zu können und mit einem blauen Auge davon kommen», fährt Liridon fort. Bei beiden Cousins sind unterdrückte Emotionen und verletzter Stolz zu spüren.

Die Fragerunde artet aus

Liridons Tonfall ändert sich schlag-artig, als Kushtrims Verteidiger Oswald eine Frage stellt: «Wenn sie sexuell frustriert sind..», setzt Liridon zur Antwort an, worauf ihn der Gerichtspräsident verwarnt. Falls er keine weiteren Beleidigungen hören wolle, solle der Anwalt intelligentere Fragen stellen, schnauzt Liridon zurück.

Der Eklat passiert, als Oswald auf Liridons ausschweifendes Leben zu sprechen kommt: teure Autos, Luxushotels, Frauen, Waffen. Fotos und Videos auf seinem Facebook-Profil dokumentierten dies. Diese Wahrnehmungen beruhten darauf, dass er sich und sein Leben gekonnt in Szene zu setzen wisse, entgegnet Liridon. «Ich bin ein Meister der Inszenierung, sie sind ein Hurensohn, Herr Anwalt.»

«Noch eine solche Bemerkung und Sie gehen zurück in die Zelle», sagt der Gerichtspräsident und verhängt eine Ordnungsbusse von 1000 Franken. Nach einer 10-minütigen Pause kommt Liridon nicht mehr zurück. «Das war eine Respektlosigkeit sondergleichen», hält Peyer fest, das Gericht habe deshalb verfügt, dass Liridon von der Verhandlung ausgeschlossen werde.
Danach geht die Verhandlung ordnungsgemäss weiter – mit den Anträgen der Anwälte.

Staatsanwalt Marc Dellsperger verlangt einen Schuldspruch wegen versuchter vorsätzlicher Tötung und fordert für Kushtrim neun Jahre und drei Monate Gefängnis. Verteidiger Urs Oswald sieht die Tat nur als Gefährdung des Lebens und beantragt eine bedingte Strafe von 20 Monaten. Der Anwalt von Liridon verlangt für seinen Klienten eine finanzielle Entschädigung in der Höhe von 250 000 Franken.

Nach mehrstündiger Beratung spricht das Gericht Kushtrim der versuchten vorsätzlichen Tötung schuldig. Liridon habe ihn finanziell ruiniert, was bei Kushtrim eine Kurzschlussreaktion ausgelöst habe, begründet Gerichtspräsident Peyer. Kushtrim habe nicht die Absicht gehabt, Liridon zu töten. «Wer mit einer Schusswaffe aus einer solchen Nähe schiesst, nimmt aber in Kauf, dass der Kontrahent getroffen wird und sterben kann.» Kushtrim muss für sechs Jahre ins Gefängnis. Sein Bruder, der Fahrer, wird in Abwesenheit freigesprochen.