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Die ehemalige Politikerin aus Baden hat ein Unternehmen gegründet. «Viele sind total neugierig. Und dann gibt es den Teil, der mein Unterfangen als absoluten Käse abtut und denkt: Die Kohler spinnt.»
Zwei Etagen geht es auf knarrenden Holzstufen runter bis zu Sandra Kohlers neuem Wirkungsfeld im Oederlin-Areal. Die überall platzierte Lotosblüte, Logo ihres Ladens «vive la v», führt Besucherinnen zu den etwas verborgen gelegenen Räumlichkeiten. Dort ist die 39-jährige Geschäftsführerin in intensivem Gespräch mit einem jungen Paar und serviert dazu Ingwerdrinks.
Beim ersten Rundumblick sticht die Auslage von sanft schimmernden Massagestäben und Yoni-Eiern aus verschiedenen Edelsteinen ins Auge. Auf einem Bücherregal liegen Werke mit so schönen Titeln wie «Slow Sex», «Vive la Vagina» und «Make more love». Sandra Kohler, die zwei Jahre lang Stadträtin von Baden war und sogar als erste Frau Stadtammann kandidierte, hat einen radikalen Kurswechsel vollzogen.
Mit «vive la v» will sie Frauen zu einem liebevollen Umgang mit ihrem Körper und lustvoller Sexualität verhelfen. «Schweizer Frauen sind verschlossener als andere», schreibt sie in einer Pressemitteilung zur Eröffnung ihres Zentrums, die am 14. November 2020 stattfand. Wie sie darauf kommt? «Ich habe in den letzten Monaten intensive Weiterbildungen im Bereich weiblicher Körperwahrnehmung gemacht. Dafür musste ich fast immer ins Ausland, weil es hier noch viel zu wenig Angebote gibt.»
In Deutschland besuchte sie einen Workshop über Vulva-Steaming (Dampfbäder für die Vagina) – ein uraltes Ritual, das weitgehend in Vergessenheit geriet. Auch für die Ausbildung zur Frauenkreis-Leiterin musste sie über die Grenze, damit sie heute entsprechende Angebote in ihrem Reich machen kann. «Dabei sitzen Frauen wie früher zusammen, singen, tanzen und machen verschiedene Körperwahrnehmungs- und -berührungsrituale», erklärt sie dazu. Sie habe in ihrem Berufsalltag oft erfahren, dass das weibliche Konkurrenzdenken immer noch stark dominiert. «Im Frauenkreis begegnen wir uns auf einer völlig anderen Ebene und nähern uns gegenseitig.»
Irgendwann musste ich mir sagen, dass ich gescheitert war.
Sandra Kohler schaffte 2017 als Parteilose den Sprung in den Badener Stadtrat. Nach zwei Jahren verabschiedete sie sich bereits wieder aus den politischen Geschäften. Hatte sie alle nur zum Narren gehalten? «Nein», sagt die Angefragte überzeugt. Sie habe die Umweltthemen und Formen eines besseren Zusammenlebens, die ihr am Herzen lagen, in ihrer Funktion niemals umsetzen können. «Irgendwann musste ich mir sagen, dass ich gescheitert war.» Häme und Kritik schlugen ihr nach ihrem Rücktritt entgegen.
Im März 2020 brach sie zusammen und wurde von ihrem Arzt krankgeschrieben. Als studierte Kommunikationsexpertin hatte sie mit ihrem Lebenspartner Andreas Schärer im eigenen Unternehmen jahrelang anderen Politikerinnen und Politikern auf die Sprünge geholfen. Ihre eigene Karriere verlief dann für Kohler aber völlig anders als erwartet.
Nach ihrem Rückzug schöpfte sie neue Kraft und plante mit ihrem Partner eine ausgedehnte Europa-Reise im Camper, um sich von nachhaltigen Projekten inspirieren zu lassen, die ihrer Lebensüberzeugung entsprechen. Der Besuch bei Umweltaktivist Rob Hopkins in Grossbritannien und viele andere Termine waren bereits fest eingeplant. Wegen der Coronapandemie musste das Paar seine Reise frühzeitig abbrechen.
Sexualität und Erotik waren für Kohler schon immer ein wichtiges Thema. «Ich bin eher konservativ aufgewachsen. Aber dank Workshops entdeckte ich neue Ebenen und wollte sie ergründen. Ich hatte das Bedürfnis, mehr über meinen Körper zu wissen», sagt sie.
Ein Schlüsselmoment in einer ihrer Ausbildungen war, dass viele Frauen kaum wussten, wie ihre Vulva oder Vagina aussieht. Sogar solche, die schon Kinder geboren hatten. «Ich möchte einen Beitrag leisten, dass Frauen einen besseren und selbst bestimmteren Bezug zu ihrem Körper bekommen. Er ist ein riesiges Geschenk und dabei spielt es überhaupt keine Rolle, ob da ein paar Falten oder Dellen mehr oder weniger sind.» Sandra Kohler hat ein Gardemass von 1,78 Metern. Fürs Foto zieht sie sich um und trägt statt Jeans und Turnschuhen ein figurschmeichelndes Kleid und High Heels. Ihre braunen Augen leuchten – sie ist voll motiviert in ihrer neuen Funktion. Unlängst gab sie einen Zoom-Workshop für Brustmassagen.
"Damit kann ich leben und bin überzeugt, von dem, was ich mache.
Nächstes Jahr will sie mit dem Studium zur Sexologin anfangen und künftig auch Paare mit Problemen im Intimleben beraten. Andreas Schärer führt derweil im hinteren Bereich der neuen Räumlichkeiten seine Firma «Glückskonzepte». Auch er hat Kommunikation studiert und will Organisationen, Firmen und Privatpersonen nach dem Beispiel des Bruttonationalglücks des Königreichs Bhutan zu einem nachhaltigen Fortschritt verhelfen.
Beide verbindet ein Ziel: «Heute geht es nur um Geld und Profit. Themen wie Glück oder Wohlbefinden werden dabei völlig untergraben. Ein Paradigmenwechsel ist dringend nötig, und wir möchten dazu einen Anstoss geben.»
Die ersten Reaktionen auf Sandra Kohlers «vive la v»? «Viele Besucherinnen sind total neugierig und wollen bei mir mehr über sich selber entdecken. Andere möchten wohl gern, haben aber noch innere Hemmungen und zeigen sich zurückhaltend. Und dann gibt es den Teil, der meine Unterfangen als absoluten Käse abtut und denkt, die Kohler spinnt. Aber damit kann ich leben und bin überzeugt, von dem, was ich mache.»