Amy Bollag
Schwere Zeiten: So war einst das Leben in Baden

Amy Bollag ist 1924 in Baden geboren. Er schreibt im Badener Tagblatt regelmässig über seine Erinnerungen an das Leben in der Stadt.

Amy Bollag
Drucken

Belci Tiziana

Herr Dampf hatte erst im 14. Jahr meines Wirkens in seiner Getreidefirma die Idee, für mich eine Pensionskasse zu errichten. Weil dies aber meinen geringen Lohn noch mehr reduziert hätte, war ich nicht einverstanden. Deshalb machte er mir einen speziellen Vorschlag: Anstelle einer grösseren jährlichen Lohnerhöhung würde er jedes Jahr den Monatslohn nur um 50 Franken erhöhen. Dafür übernehme Herr Dampf, also die Firma, den ganzen Pensionskassenbeitrag. Leider akzeptierte ich diesen Vorschlag.

Dampf war – gelinde gesagt – ein ganz durchtriebener Chef. Wir waren sieben Angestellte, wobei der Buchhalter und ich die Einzigen waren, die während der 18,5 Jahre in der Firma arbeiteten. Die anderen wechselte Dampf in dieser Zeit 846-mal. Er ging katastrophal mit den Menschen um und benahm sich wie ein Patron von vor 100 Jahren. Die Zahl 100 hätte noch einen Doppelsinn.

Er liess das Getreide, das per Schiff in Basel ankam und per Camion ins Lager gebracht wurde, immer in 100-Kilo-Säcke abpacken. Dies war billiger als in 80er- oder 90er-Säcken. Dass die Arbeit mit den schweren Gebinden viel mühsamer war, liess Dampf kalt.

Da all diese Jahre, neben viel Büroarbeit, die Ein- und Auslagerungen mir oblagen und ich dies schon gewöhnt war, wären für mich 80-Kilo-Säcke Ferienarbeit gewesen. Da Herr Dampf aber gerne auf anderer Leute Schultern sparte, annullierte er ständige meine Anweisungen an die Reedereien. So gab ich auf und stapelte die schweren Säcke. Die mit den schweren Lastzügen ankommenden Chauffeure fragten immer das Gleiche. Sie konnten nicht verstehen, warum ich diese schwere Arbeit machte.

Ich könnte doch viel besser im Büro arbeiten. Sie prophezeiten mir, wenn ich so weiterschufte, werde ich mit 50 Jahren nicht einmal mehr mit Stöcken gehen können. Meine Antwort darauf war einfach. Die ganze Verwandtschaft meiner Mutter sei unter den Nazis umgekommen. Deswegen glaube ich, eine gewisse Zeit müsse auch ich ein schweres Leben durchmachen. Immerhin hat mir der Himmel die Knochen eines Esels geschenkt, und ich habe keinen Schaden erlitten.

Nun zurück zu meiner Pensionskasse. Leider hatte ich mich mit dem am Anfang erwähnten Vorschlag von Dampf einverstanden erklärt. Eigentlich hätte ich seine berechnende, habgierige und rücksichtslose Art genügend kennen sollen. Ich hatte ja miterlebt, wie er seine Frau, die immer in grosser Angst und Panik unter seinem Terror lebte, in relativ jungen Jahren in den Boden geackert hatte. Sie starb. Gäbe es eine Hölle, sie hätte keine Sekunde darin verbringen müssen. Alles hatte sie schon zu Lebzeiten abgegolten.

Einige Zeit nach dem Begräbnis seiner Ehefrau offenbarte Dampf mir seine Bombenidee, die er auch schon ausgeführt hatte. Er rieb sich die Hände und erzählte, er hätte die Erbschaft seiner ältesten Tochter mit der Mitgift kombiniert und sei so finanziell äusserst vorteilhaft davongekommen. Er lobte sich, wie er diesen Geniestreich fertig gebracht habe. Ich kannte sein menschenverachtendes Verhalten und trotzdem hatte ich leider mein Einverständnis zu seinem hinterhältigen Pensionskassen-Vorschlag gegeben.

Dampf hatte inzwischen das Sackgewicht auf 110 Kilo erhört. 18 schwere Jahre waren schon vorbei. Endlich raffte ich mich auf und kündigte meinen mühsamen Posten. Meine Frau und ich waren inzwischen zu einer Familie mit 3 Kindern herangewachsen und hätten das Geld der Pensionskasse dringend gebraucht.

Ich musste ja mit 45 Jahren neu beginnen. Es hätte sich um 12 500 Franken gehandelt, für so viele Jahre wenig, aber 1969 doch ein schöner Batzen. Es kam, was kommen musste. Dampf erklärte, ich hätte nichts zugut, da ja die Firma die ganzen Beiträge bezahlt habe. Ich hätte die Stelle gekündigt, deswegen bleibe das Geld in der Firma. Ich war perplex, konnte aber nichts machen. Der Vertrag war zu schlau abgefasst worden.

Es gab doch noch ein Nachspiel. Dampf verheiratete ganz kurze Zeit später seine zweite Tochter und lud mich persönlich zur Hochzeit ein. «Herr Dampf», meinte ich, «wenn ich das mir zustehende Geld nicht erhalte, werde ich nicht an der Vermählung teilnehmen.» Erstaunlicherweise versuchte er sich zu entschuldigen. Er versprach, dass er mir den Betrag auszahlen würde, wenn ich zum Fest kommen würde. Gutgläubig ging ich an die Feier, aber die Wochen vergingen und kein Geld kam.

Drei Monate später war die Konfirmation seines jüngsten Sohnes fällig. Wieder wurde ich eingeladen. Nein, mein feiner Herr Dampf, empörte ich mich. Mein Geld sind Sie mir immer noch schuldig und deshalb werde ich bestimmt nicht kommen. Wie ein Wasserfall kam es jetzt aus ihm heraus. Weil ich ihn verlassen hätte, sei er nun mit unheimlich viel Arbeit überhäuft, sodass er noch keine Zeit gefunden hätte, meine Pension auszuzahlen. Wenn ich doch zu Konfirmation kommen würde, werde er hundertprozentig das Nötige veranlassen, dass ich mein Geld bekomme. Wieder ging ich darauf ein und natürlich kam wieder kein Geld.

Seit ich aus Dampfs Betrieb weg war, waren fünf Monate vergangen, und trotz all seinen Versprechungen hatte sich wegen meiner Pensionskasse nicht getan. Am Anfang des 6. Monats erhielt ich einen Telefonanruf eines ehemaligen Mitarbeiters. Dampf sei tot. Er solle doch keine Witze machen, der Firmenchef sei doch immer kerngesund gewesen, antwortete ich. Nein, meinte er. Es sei die Wahrheit, unser ehemaliger Chef Dampf hätte noch am Vortag seinen wöchentlichen Marsch auf den Üetliberg absolviert, aber am anderen Morgen habe er tot im Bett seiner Villa am Zürichberg gelegen. Mit seinem Begräbnis wurde auch meine Pensionskasse begraben.