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In seiner neuen Kolumne erzählt Simon Libsig von Runden im Wohnzimmer, die seine "Löwen" täglich drehen. Dabei fühlt er sich auf den Fersen des Glücks.
Unsere beiden Löwen lieben es. Seit wir hier wohnen, gab es wohl noch keinen Tag, an dem sie nicht mindestens zehn Runden gerannt sind. Die Runde startet im Wohnzimmer, dann geht’s im Uhrzeigersinn vorbei am Esstisch (meistens natürlich haarscharf), durch die Küche, durch den Eingangsbereich und dann kommt man bereits wieder ins Wohnzimmer. Eine Runde dauert bloss ein paar Sekunden. Aber sie hat es in sich. Und sie hält die eine oder andere Lektion fürs Leben bereit. Zum Beispiel haben die Löwen relativ schnell gemerkt, dass man die Runde nicht auf rutschigen Socken rennen sollte. Ja. Bodenhaftung ist wichtig. Und jeder von uns braucht einen gewissen Halt. Wenn man ins Schleudern gerät und niemand da ist, der einem die Hand reicht, dann kann es sein, dass man abrutscht, dass man die Kurve nicht kriegt und auf der Strecke bleibt. Oder eingeklemmt unter dem Sofa. Oder vermüeslet im Sideboard.
Natürlich kann man die Runde auch im Gegenuhrzeigersinn rennen, funktioniert genauso. Welche Richtung die Richtige ist, weiss niemand mit Sicherheit. Das wird von Fall zu Fall bestimmt. «Mir nach!», brüllt der grössere Löwe dann, aber der kleinere Löwe hat seinen eigenen Kopf. Und so rennt der eine rechts rum und der andere links rum, und man kann froh sein, wenn sie sich beim Aufeinandertreffen nicht die Köpfe einschlagen.
Diese Runde hat uns schon viele Tränen beschert. Auch einen kaputten Couchtisch, eine Lärmklage und einen Wackelzahn. Aber die lustigen und wertvollen Momente überwiegen bei weitem. Manchmal sind die Löwen verkleidet unterwegs, als Batman oder Spiderman und manchmal auch füdliblutt. Manchmal zieht der eine den anderen auf einer Decke hinter sich her und manchmal hüpfen sie auf einem Beim. Sie tragen unsere für sie viel zu grossen Schuhe, sie legen Matten aus und absolvieren die Runde Purzelbaum an Purzelbaum oder sie nehmen die Katzen mit, im Kinderwagen. Diese Runde ist pures Leben.
Seit ich so viel Zeit zu Hause verbringen kann, ist die Runde auch für mich zum täglichen Ritual geworden. Ich habe nicht immer gleich viel Lust und die Löwen müssen mich manchmal regelrecht auf diese Runde zerren, aber ich werde immer dafür belohnt. Ich brauche lediglich die Hände über meinen Kopf zu halten, mit tiefer Stimme ein paar schauerliche Laute von mir zu geben und schon rennen die beiden los, kreischend vor Freude und Aufregung. Ich nehme dann die Verfolgung auf, haarscharf am Esstisch vorbei, durch die Küche und den Eingangsbereich, weiter ins Wohnzimmer, wieder am Esstisch vorbei, und mit jeder Runde werde ich klarer. Was bin ich in meinem Leben schon allem hinterhergerannt. Terminen. Geld. Aufmerksamkeit. Anerkennung. Und dabei ging mir regelrecht die Puste aus. Unseren Löwen hinterherzurennen kann auch anstrengend sein. Aber ich spüre, hier bin ich tatsächlich meinem Glück auf den Fersen. Und ich kriege es immer mal wieder zu fassen.
Autor Simon Libsig Poet (42) hat kürzlich ein neues Kinderbuch veröffentlicht. Seine Kolumne erscheint immer am ersten Donnerstag im Monat im Badener Tagblatt.