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Kinder, die erst im Kindergarten die deutsche Sprache lernen, sind benachteiligt. Vorschulische Angebote könnten helfen. Wie werden diese in Neuenhof und Spreitenbach, den Gemeinden mit den höchsten Ausländeranteilen im Aargau, gefördert?
Der Spielgruppe in Gebenstorf fehlen die passenden Räumlichkeiten und das Geld, um wenigstens den aktuellen Platz im Gewerbehaus Geelig, ohne Preiserhöhung halten zu können. Deshalb ersuchte die Spielgruppe die Gemeinde um finanzielle Unterstützung. Die lehnte ab: Man wolle kein Präjudiz schaffen und vermeiden, dass danach andere private Institutionen ebenfalls Geld fordern.
Daraufhin machte ein Brief des Elternkreis Turgi/Gebenstorf, der die Spielgruppe führt, an Gönner und Sponsoren die Runde, in dem auch die Wichtigkeit von Spielgruppen in Sachen frühkindliche Bildung betont wurde: «Sie entlasten Schulen und fördern die Integration». Ohne Früherkennung könnten Entwicklungsrückstände nicht aufgefangen werden.
Gemeinden sind nicht dazu verpflichtet, Spielgruppen zu unterstützen. Das Kinderbetreuungsgesetz (KiBeG), das 2016 eingeführt worden ist, verpflichtet die Gemeinden zwar dazu, Angebote für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu schaffen. Spielgruppen gehören da aber nicht dazu. Das bedauert Annegret Gerber, Geschäftsleiterin der Mütter- und Väterberatung Baden (MVB), die mit den Gemeinden aus dem Bezirk zusammenarbeitet. Auch sie unterstreicht die wichtige Funktion von Spielgruppen: «Die Kinder machen Erfahrungen mit Gleichaltrigen, lernen in vorgegebenen Strukturen sich zu orientieren, kommen spielerisch mit der deutschen Sprache in Kontakt und werden in ihren Kompetenzen gefördert».
Viele Kinder mit Migrationshintergrund kommen erst in Spielgruppen oder anderen vorschulischen Institutionen wie Kindertagesstätten mit der deutschen Sprache in Berührung. Das erleben auch die beiden Gemeinden mit den höchsten Ausländeranteilen im Kanton, Spreitenbach mit 50,30 und Neuenhof mit 48,73 Prozent. «Wir haben teilweise Klassen, in denen es nur noch ein oder gar keine Schweizer Kinder mehr hat», sagt der Neuenhofer Gemeinderat Andreas Muff (parteilos), zuständig für den Bereich Soziales. 70 bis 80 Prozent der Neuenhofer Schulkinder hätten einen Migrationshintergrund: «Es ist problematisch, wenn Kinder kommen, die noch nie Deutsch gesprochen haben».
Neuenhof und einige andere Gemeinden der Region haben sich auch deshalb an einen «Runden Tisch» gesetzt – im Rahmen des Kantonalen Integrationsprogramms KIP 2, das auch den Teilbereich «Frühe Förderung» beinhaltet. Die Gemeinden, die noch nicht alle namentlich genannt werden können, wollen gemeinsam ein dezentrales Angebot in der Frühförderung schaffen, sagt Muff. Spruchreif sei aber noch nichts, erst Mitte Juni könne mehr berichtet werden.
Aktuell unterstützt Neuenhof die hiesige Spielgruppe mit Räumlichkeiten. Jedoch nicht kostenlos: «Wir stellen eine 4 1/2-Zimmer-Wohnung zur Verfügung, die wir normalerweise für einen höheren Preis vermieten könnten», so Muff. Andere vorschulische Institutionen wie zum Beispiel Kindertageshorte oder -stätten hat die Gemeinde früher direkt mit einem Beitrag unterstützt.
Seit Einführung des KiBeG gilt im Bereich der Kinderbetreuung bis zur Schulpflicht die Subjektfinanzierung: «Nun investieren wir Geld in Familien mit tieferen Einkommen, damit sie ihre Kinder – falls beide Eltern arbeiten – in die Kita oder in den Tageshort schicken können», erklärt Muff. Ausserdem unterstütze der Neuenhofer Sozialdienst Familien so, dass ihre Kinder in die Kindertagesstätte gehen können, um in einem «normalen» sozialen Umfeld aufwachsen zu können.
Für all diese Massnahmen muss Neuenhof mehr Geld in die Hand nehmen: «Die ausgerichteten Beiträge steigen markant an. Im Rechnungsjahr 2018 wurden insgesamt fast doppelt so hohe Beiträge wie im Jahr 2017 ausgerichtet», so Muff. Das sei für die Gemeinde aber eine der wenigen Möglichkeiten, die Kinder schon vor dem Eintritt in den Kindergarten mit der deutschen Sprache vertraut zu machen: «Wir machen das für das Kindswohl», sagt er. Die Kinder müssten früh in diese Richtung gefördert werden, um in die richtigen Bahnen zu kommen.
Vor vier Jahren startete die Mütter- und Väterberatung Baden (MVB) das Pilotprojekt «FF3 – Frühe Förderung 3 Jahre», das seit letztem Jahr fest zum Angebotskatalog gehört. Inzwischen haben es die Mütter- und Väterberatungen der Bezirke Aarau, Bremgarten und Zofingen übernommen. Anstoss zur Entwicklung des Programms gab ein «Runder Tisch» mit Kindergartenlehrpersonen. Sie wiesen auf zunehmende Kompetenzschwierigkeiten bei Kindern hin. Mit «FF3» soll die Chancengleichheit der Kinder bei Kindergarteneintritt erhöht werden, damit diese von Beginn weg mit ihren Deutsch sprechenden Kindergartengspänli mithalten können. Im Fokus des Programms stehen Sprachkompetenz, Grob- und Feinmotorik, gesundes Körpergewicht, soziale Kompetenz sowie die Erziehungskompetenz der Eltern. Und so funktioniert «FF3»: Alle Eltern mit einem dreijährigen Kind werden angeschrieben und auf das Angebot aufmerksam gemacht. Letztes Jahr wurden rund 1600 Briefe verschickt. Eine Woche nach Versand fassen Beraterinnen bei Familien, die definierten Kriterien entsprechen, nach.
«Dank der Gesprächsdiplomatie der Beraterinnen konnten wir so 394 Eltern erreichen. Davon haben 72 Prozent der Eltern einem Hausbesuch zugestimmt», schreibt die MVB im Jahresbericht 2018, der gerade erschienen ist. Beim Hausbesuch beobachten und spielen die Beraterinnen mit den Kindern: «Wir zeigen, wie man mit einer Schere umgeht und erklären, wie wichtig es zum Beispiel ist, gemeinsam Büechli anzuschauen», erklärt Annegret Gerber, Geschäftsleiterin der MVB und Initiantin von «FF3». Bei 122 von 283 besuchten Kindern hätten sie im letzten Jahr Empfehlungen ausgesprochen. 77 Eltern wurde empfohlen, ihre Kinder in eine Kindertagesstätte oder Spielgruppe anzumelden.
Auch Spreitenbach lässt sich die Frühförderung etwas kosten: «Im vergangenen Jahr haben wir rund 365 000 Franken an Subventionen für anerkannte Kinderbetreuungen im Vorschulalter bezahlt», erklärt Gemeinderat und Sozialvorsteher Marcel Lang (parteilos). Zudem wurde die sprachliche Förderung mit Kursen für das sogenannte MuKi-Deutsch, Sprachkurse für Mutter und Kind, mit mehr als 20 000 Franken unterstützt.
Eine «Politik der frühen Kindheit» lohne sich auch volkswirtschaftlich, heisst es in der im Februar erschienenen Publikation «Vorschläge für eine Politik der frühen Kindheit in der Schweiz» der Schweizerischen UNESCO-Kommission: «Viele Studien zeigen, dass Investitionen in die e Bildung sehr rentabel sind. Denn Kinder, die in den ersten Jahren gut gebildet, betreut und erzogen werden, seien später gesünder, zufriedener und erfolgreicher». Das heisst: Sie kosten den Staat weniger Geld.
Das grosse Problem sieht Marcel Lang aber weniger bei fehlenden Angeboten, sondern woanders: «Die Schwierigkeit sämtlicher Programme besteht darin, dass keine Verpflichtung der zugewanderten Personen besteht, innert einer angemessenen Frist die hier gebräuchliche Landessprache zu erlernen und auch Rechenschaft über die erworbenen Fähigkeiten abzulegen.» Eine gesetzliche Grundlage dafür fehle: «Hier ist die Politik bis nach Bern gefordert, entsprechende Gesetzesvorstösse zu lancieren, damit jeder Einzelne in unserer Gesellschaft aufgefordert wird, seinen persönlichen Beitrag zur Integration zu leisten», bekräftigt Lang.
Dank des Kantonalen Integrationsprogramms wird das Thema Frühförderung bei Gemeinden konkret angestossen. Das begrüsst Gebenstorfs Gemeindeammann Fabian Keller (CVP). Auch für seine Gemeinde, mit einem Ausländeranteil von 27,1 Prozent, sei dies ein wichtiges Thema, das man angehen müsse. Der Kanton habe im Januar zu einem weiteren «Runden Tisch» aufgerufen, an dem sie auch interessiert seien: «Es ist gut, dass etwas geht.»