Sehbehinderte besuchen Badener Gewerbetreibende in der Badstrasse und Weiten Gasse und machen sie auf Stolperfallen im Alltag aufmerksam.
Da bleibt so mancher in der Badstrasse einen Moment stehen und blickt der Gruppe mit ihren Blindenlangstöcken verstohlen nach. Reinhard Anliker, Co-Präsident Schweizerischer Blindenbund, Regionalgruppe Nordwestschweiz, und sein Team sind diesen Dienstag, dem internationalen Tag des weissen Stocks, mit einer ganz speziellen Mission in Baden unterwegs. Die schwerst Sehbehinderten besuchen Geschäfte und Restaurants, um die Gewerbetreibenden über allfällige Hindernisse und gefährliche Stolperfallen auf dem Trottoir zu informieren.
Anliker dazu: «Nur wenige wissen, dass beispielsweise die Wasserrinnen links und rechts in der Badstrasse auch als Orientierungshilfen für Menschen konstruiert wurden, die sich im Alltag mit ihrem Tastsinn zurechtfinden müssen. Deshalb sollten sie unbedingt hindernisfrei sein.»
In der Weiten Gasse dienen die Randsteine ebenfalls als Anhaltspunkte für Sehbehinderte und Blinde und sollten deswegen durch nichts blockiert werden. Aber vor so manchen Geschäften stehen Kundenstopper (Stellplakate), Kleiderständer oder Schuhregale genau dort, wo sie nicht hingehören.
«Uns ist aufgefallen, dass die meisten Ladenbesitzerinnen und -besitzer entweder keine Ahnung von der Funktion der Rinnen und Randsteine haben; oder deren ursprünglicher Zweck als Führungsstruktur schlicht vergessen gegangen ist, weil das wahrscheinlich schon lange nicht mehr kommuniziert wurde.» Auch ein Mitarbeiter der Stadtpolizei sagt am Telefon, dass er nichts über den Zweck der Rinnen für Sehbehinderte und Blinde wisse.
Anliker, der noch zwischen 3 und 5 Prozent Sehvermögen hat, zeigt sich verständnisvoll: «Früher, als meine Sehkraft noch besser war, hätte ich auch kein spezielles Bewusstsein für solche Dinge gehabt.» Der 58-jährige Mann aus Bremgarten leidet unter Zapfendystrophie, einer seltenen Netzhauterkrankung. Unterkriegen lässt er sich deswegen nicht. Er engagiert sich im Schweizerischen Blindenbund für Menschen, die ihr Schicksal teilweise nicht so gut stemmen können, wie er. «Wir machen auf unserer Tour durch Baden fast nur positive Erfahrungen», erzählt er weiter.
Christine Siegrist, Geschäftsführerin von Bücher Doppler, reagiert beispielsweise sofort und stellt ihren Kundenstopper von der Orientierungsrinne weg. Sie lädt die Anwesenden sogar dazu ein, Interview und Foto in der Buchhandlung zu machen. Nur in einem Schuhladen, vor dem ein Regal den Weg verstellt, reagiert ein Verkäufer etwas unwirsch. «Ich muss arbeiten, fragen sie meine Chefin.» Als Anliker diese sprechen will, heisst es: «Sie ist gerade in den Ferien».
In einem der zahlreichen Nagelstudios machen die Mitarbeiterinnen grosse und fast ein wenig ängstliche Augen, als sie die vielen weissen Stöcke sehen. Bei ihnen gibt es aber nichts zu bemängeln. Sie erhalten als kleines Dankeschön Schokoladenherzen und fluoreszierende Armbinden vom Schweizerischen Blindenbund. Alle lachen erleichtert und freuen sich über die Geschenke. «Wir wollen keineswegs moralisieren oder den Gewerbetreibenden Schuldgefühle einflössen», betont Anliker, «sondern einfach auf Gefahrenquellen hinweisen, die keine sein müssten.»
Ein junger Mann, der vor seinem Laden Pause macht und eine SMS tippt, schaut der Gruppe Sehbehinderter kurz nach. «Das machen die schon recht so», meint er eher gleichgültig und widmet sich wieder seinem Handy. Wie nachhaltig sind Mobilisierungsaktionen wie diejenige in Baden? Anliker zögert kurz mit seiner Antwort: «Ich glaube schon, dass sich dadurch etwas verändert. Für wie lange ist allerdings immer fraglich.»