Agglomeration
«Typisch Spreitenbach»: Die beneidenswerten Rabauken der polarisierenden Limmattaler Gemeinde

Superspreader in der Tesla-Bar, Schlägerei im Shoppingcenter: In der Limmattaler Gemeinde passieren fatale Dinge. Doch die grosse Spezialität des Ortes ist ein Paradox: Er hat den Ruf eines «Ghettos» – aber man fühlt sich entspannt wie in einem Park.

Max Dohner
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Ein amerikanisch anmutender Turm zum unwahren Waren-Babel: Das Shoppingcenter und seine Umgebung dienten in Schulzimmern der 1970er-Jahre zur Illustration einer Mahnung.

Ein amerikanisch anmutender Turm zum unwahren Waren-Babel: Das Shoppingcenter und seine Umgebung dienten in Schulzimmern der 1970er-Jahre zur Illustration einer Mahnung.

Swissair (28.8.1972

Stumm, also wirkungsvoll griff der Mann zu Spreitenbach. Am oberen Rand des Dorfs gab’s zwei Ösen; die passten exakt in zwei Haken. Daran zog der Mann mit einer Schnur alles hoch bis zur Decke. Wo Spreitenbach dann hing – während Wochen. Und noch Monate darüber hinaus hängen blieb in den Köpfen der Klasse. Bei manchen jahrelang, in einigen Köpfen bis heute. Selbst bei solchen, die das Wandbild nie gesehen hatten – als dauerpräsentes Vorurteil oder Klischee.

Das Unterrichtsthema damals hiess «Spreitenbach». Lautete im Grunde aber: «Die Kehrseite des Wachstums». «Zersiedelung», da und dort auch «Verschandelung» genannt. Spreitenbach hing als sogenanntes Schulwandbild an der Stange beziehungsweise am Pranger – als «Symbol», und das gleich national. Es diente Lehrerinnen und Lehrern zur Illustration einer Mahnung: Spreitenbach hatte plötzlich Glamour; erstmals in der Schweiz war ein Paradies gebaut worden, wozu jeder Zutritt hatte, indem er schnuppernd einfach shoppte. Aber die Folgen, das war die Mahnung, seien für Mensch und Umwelt «verheerend».

«Blut- und Leberwurst»

Wir sprechen vom Schulwandbild Nummer 167. Ein vergrössertes Swissair-Foto aus dem Jahr 1975, das die Neuzeit zeigte: das Shoppingcenter, diesen amerikanisch anmutenden Turm zum unwahren Waren-Babel. Davor standen eine Unzahl auffällig bunter Autöli auf einem Parkfeld – an sich ein teurer Goldclaim für ordinäres Blech. Die Autöli sind dar­um 2020 alle versorgt in Katakomben wie damals die Matchbox-Cars der Buben in Schubladen. Noch höhere Türme stehen jetzt da, ihrer Fassadenfarbe wegen vom Volksmund «Blut- und «Leberwurst» getauft.

Eindrücklicher war jenes «Spreitenbach 1975» noch wegen des Kontrasts. Schulwandbild Nummer 168 nämlich, also gleich das nächste, hiess «Allaman 1975». Ein Waadtländer Dorf, das die reine, «historisch gewachsene» Idylle darstellte. Ein überschaubares Nest geduckter Bauernhäuser zwischen Wäldern und Feldern und – leicht abgehoben – das einst von den Eidgenossen gebrandschatzte Château.

Was für eine hintergründig kapriziöse Parallele zum Spreitenbacher «Franzosenweiher»! Heute eine Idylle wie Allaman vor fünfzig Jahren. Ein Biotop im erholsamen Wilentäli, eingebettet in die «Landschaftsspange» einer auslaufenden Linth-Gletscher-Moräne. Ursprünglich ein Fischgewässer für nimmersatte Klosterbrüder, bis eben die Franzosen es brandschatzten, seit 2013 renaturiert.

Als die «Coop-Zeitung» es mal wagte, «Einen Tag in Spreitenbach» zu verbringen, prangte der Waldweiher in grosser Aufmachung im Blatt. Beim Anblick zuckte jeder Hobbyaquarellist zusammen: Liessen sich die «künstlerisch wertvollsten» Bilder etwa in Spreitenbach malen? Kein Backstein weit und breit, kein Asphalt oder Beton. Auch zur Verblüffung aller Nicht-Spreitenbacher, vielleicht gar zur konter-pädagogischen Korrektur des Schulwandbilds in manchen Köpfen.

Hat ausgerechnet dieser Ort die Nase voll vom Boom?

Die Entdeckung des Franzosenweihers verdanken wir kundiger Führung: ­Valentin Schmid, Jahrgang 1967, aufgewachsen in Spreitenbach, bis zum Ausbruch von Corona Gemeindepräsident – eine Zufälligkeit, kein Zusammenhang. Wie auch Schmids Demission nach zwei Amtsperioden nicht im Zusammenhang stand mit dem denkwürdig satten Nein des Souveräns zum Neumatt-­Projekt: Hunderte von Wohnungen in Hundert-Meter-Türmen blieben Planpapier.

Rings um Spreitenbach staunte man: Hat ausgerechnet Spreitenbach die Nase voll vom Boom? War es schiere absurde Verzweiflung? Will hoffnungslos verspäteter Dörfligeist etwa retour zur Idylle? Keine Annahme wäre falscher. «Wahrscheinlich war es einfach zu früh», sagt Valentin Schmid, «nebst dem, was gerade auch noch läuft im Dorf (‹Tivoli-Garden› mit 400 Neuwohnungen u.a.), schlicht des Guten zu viel.» Keine Vollbremsung. Der Zug der Entwicklung laufe an sich flott weiter, sagt Schmid, ziehe eher noch an, entlang der Limmattalbahn.

«Der Zug der Entwicklung läuft flott weiter, zieht eher noch an, entlang der Limmattalbahn.» Valentin Schmid ehemaliger und langjähriger Gemeindeammann von Spreitenbach.

«Der Zug der Entwicklung läuft flott weiter, zieht eher noch an, entlang der Limmattalbahn.» Valentin Schmid ehemaliger und langjähriger Gemeindeammann von Spreitenbach.

Aargauer Zeitung

Die Bauarbeiten mit ihren Umleitungen und Einschränkungen wirken auf auswärtige Shoppingsputniks so bedrückend wie chaotisch, vor allem nach sieben Tagen Regenwetter. Es zeichnen sich beidseits der Trasse indes Neuerungen ab, die auch schlicht Neugier und Vorfreude wecken: Die Bahn hält in Häusern, fährt durch Einsparungen von Häusern – «Feng-Shui-mässig», kommentiert Schmid.

Der frühere Leiter des Think-Tank Avenir Suisse, Thomas Held, hatte mal empfohlen, die Schweiz insgesamt wie eine Stadt zu betrachten und danach zu organisieren, mitsamt Nahverkehr, Naturparks usw. Eben das scheint sich in und rund um Spreitenbach zu entwickeln: ein Siedlungs-Missing-Link zwischen rural und urban, Dorf und Stadt. Ein langsam sogar fast ästhetisch zusammenwachsendes «Agglo»-Gebilde.

Die Spreitenbacher Glücksfälle

Dabei halfen Spreitenbach ein paar Glücksfälle. Entwicklungssprünge, die früher als anderswo einfach zu «Leitpflöcken» zwangen. 1961 lebten im alten Spreitenbach (ein nahezu intakt vom Rest separiertes Ensemble) noch tausend Leute. 1967 waren es 5000. Damals erfolgte jener Boost, der Spreitenbach zum Symbol werden liess. Seither stieg die Zahl zwar weiter deutlich, aber relativ kontinuierlich bis auf 12'000 heute (die Planung mit Neumatt wäre auf 15'000 ausgerichtet gewesen).

In anderen Worten: Spreitenbach bekam – und nutzte offensichtlich – das Privileg, auf den Chlapf des «Wirtschaftswunders» ordnend noch einzuwirken. Valentin Schmid versprach uns «mindestens vier Quartiere mit ganz eigenem Charakter». Wir hatten bisher bloss zwei getrennte Welten wahrgenommen: den bereits erwähnten Dorfkern und – nördlich der Landstrasse – die berüchtigte Industrie- und Gewerbebrache. Waren die vier Wohnoasen nicht bloss Lokalpatriotismus? An Ort und Stelle schwand unsere Skepsis. Schmid hatte recht: Innerhalb einer halben Stunde wechselte viermal das ­Cachet, die Atmosphäre.

Flugaufnahme von Spreitenbach 1972 mit dem Shoppi im Vordergrund. Links der alte Dorfkern, rechts Neu-Spreitenbach.

Flugaufnahme von Spreitenbach 1972 mit dem Shoppi im Vordergrund. Links der alte Dorfkern, rechts Neu-Spreitenbach.

ETH-Bibliothek

Wer Emmen/Emmenbrücke zum Speien findet, wer den Agglo-Brei zwischen Visp und Brig mit konsternierten Augen schon durchfahren hat, die Scheusslichkeit kennt von Dübendorf/Volketswil, die zerstörte Magadino-­Ebene, den «Architektur»-Auswurf rund um Chur, Sursee, Kriens und Frauenfeld, wer die charakter-gebrochenen Gemeinden im Luzerner Hinterland gesehen hat, der kann sich nur wundern, weshalb die «Restschweiz» andauernd mit dem Finger auf Spreitenbach zeigt.

«Typisch Spreitenbach»

Aber passieren hier nicht ständig fatale Dinge – einfach «typisch Spreitenbach»? Sei es eine Schlägerei im Shoppingcenter, der Selbstmord einer im Netz gemobbten Schülerin, die «Superspreader» jetzt in der Tesla-Bar, der Sturz eines Unglücklichen in einen Liftschacht. Der Tod eines Babys, einen Steinwurf davon entfernt, das im Oktober 1993 eine Mutter hatte verhungern lassen.

Damals schrieb das «Badener Tagblatt» nach einem Augenschein: «Es ist kalt in Spreitenbach.» So salbungsvoll klingt nur das Klischee. Das «Aargauer Tagblatt» machte sich die Mühe, mit den Leuten zu reden in den 42 Wohnungen des Schicksalsturms. Und fragte danach: «Was ist eigentlich ‹typisch› Spreitenbach? Gar nichts.» Ausgerechnet dort, wo angeblich «totale Anonymität» herrschte, passten in Wirklichkeit die Nachbarn besonders aufeinander auf. Bei 50 Prozent Ausländeranteil aus aller Welt dient hier ausgerechnet Deutsch als Esperanto, womit man sich querbeet verständigen kann.

Wohnung nur mit zwei Kindern pro Familie

Die grosse Spezialität, die man in Spreitenbach erfahren kann, ist ein Paradox: Man steht an einem Ort, der im Ruf eines «Ghettos» steht – und fühlt sich entspannt wie in einem Park, dank der «Durchsehbarkeit» der Wohnblocks, der weitgehend einheitlichen Bauweise pro Quartier, den heute so herrlich ausladenden ausgewachsenen Bäumen.

Auf eine letzte Sache muss man geradezu glühend neidisch sein. Sie liegt einige Jahre zurück, hält sich aber heute noch partiell lebendig. Wir stehen mit Valentin Schmid vor dem Genossenschaftsblock, worin er aufgewachsen war. Bedingung damals, um eine solche Wohnung zu bekommen, waren mindestens zwei Kinder pro Familie. Mit dem Resultat, dass die Quartierjugend jeweils «zu sechzigst» Räuber und Poli spielen konnte. Ich wuchs auf dem Land auf, in bäurischer Streitkultur. Wir brachten es jeweils auf zwanzig Rabauken. Kein Vergleich zur Mittwochnachmittagsarmada aus der goldenen Ära Spreitenbachs.