Kindsmisshandlungs-Prozess
Verteidiger über Mutter: «Sie tat ihr Möglichstes, die Ärzte nicht»

2014 verstarb im Bezirk Baden ein zweijähriger Bub, nachdem er mutmasslich vom Stiefvater monatelang misshandelt worden war. Auch die Mutter steht als Angeklagte vor Gericht – und kritisiert die Spitalärzte.

Mario Fuchs
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2014 stirbt im Bezirk Baden ein zweijähriger Bub. Mutmasslich, weil sein Stiefvater ihn über Monate misshandelt und zuletzt zu Tode schüttelt. Die Staatsanwaltschaft wirft der heute 32-jährigen Mutter vor, sie habe ihre Aufsichtspflicht verletzt. Sie hätte merken müssen, dass ihr Lebenspartner ihren Sohn von Juni bis Oktober 2014 quälte und tödlich verletzte. Heute Dienstag begann der Prozess mit der Befragung der Mutter. Sie ist wegen fahrlässiger Tötung sowie Körperverletzung durch Unterlassen angeklagt.

«Wollten eine kleine Familie sein»

Die Deutsche, die mehrere Jahre im Aargau gelebt und gearbeitet hatte, wirkt gebrochen. Stefanie (alle Namen geändert) hat sich geschminkt, doch Trauer ist das Einzige, was in ihrem Gesicht zu sehen ist. Sie spricht so leise, dass Gerichtspräsidentin Gabriella Fehr sie mehrfach auffordern muss, lauter zu reden. Oft muss sie unterbrechen, weil die Tränen stärker sind.

Im Frühling 2012 heiratet Stefanie in Deutschland. Kurz darauf kommt ihr Sohn Michael zur Welt. «Er war ein Wunschkind», erzählt sie vor den Richtern. Doch das Glück hält nur ein gutes Jahr. Im Herbst 2013 verlässt sie das Familienhaus auf der deutschen Seite des Rheins. Sie sagt, der Vater sei gewalttätig gegen sie geworden, das Gericht in Deutschland habe ein Annäherungsverbot ausgesprochen. Im Aargau will sie neu beginnen. Doch der kleine Michael kommt nicht mit dem Ortswechsel zurecht. Hat regelmässig Trotzanfälle, schlägt seinen Kopf auf den Boden oder gegen die Innenseite seines Kinderbetts.

Im Frühling 2014 lernt sie im Internet einen neuen Mann kennen: Robert. Er übernachtet erst bei ihr, zieht bald ganz ein. Auch Robert hat keine einfache Vergangenheit: Er soll vom Stiefvater sexuell missbraucht worden sein. Er freut sich, dass Stefanie einen Sohn hat, lernt, wie man ihn wickelt, badet, zu Bett bringt. «Wir wollten eine kleine Familie sein», schluchzt Stefanie.

Umstrittene Rolle der Spitalärzte

Doch dem Buben geht es immer schlechter. Er ist ständig verletzt. Die Anklageschrift listet über 20 Vorfälle auf: Blutergüsse an Stirn und Armen, Gesäss und Genitalien. Beulen am Kopf, Schrammen im Gesicht, ein Würgemal am Hals. Ein Schnitt und ein andermal eine Verbrennung an der Hand. Stefanie ist beunruhigt, geht mit Michael zum Kinderarzt und später ins Spital. Überall hat sie Erklärungen parat. «Er war halt ein hyperaktiver, lebenslustiger, tollpatschiger Junge.»

Sie habe die Verletzungen darauf zurückgeführt. Ärzte, ihre Eltern, Freunde und Kita-Betreuerinnen hätten sie darin bestärkt: Sie habe sich immer wieder beruhigen lassen. «Nie hat jemand mit mir über Kindsmisshandlung gesprochen», klagt sie vor allem die Ärzteschaft eines Zentrumsspitals an. Selber habe sie nie so weit denken können – ja könne es bis heute nicht: «Ich war doch so froh, wieder einen Mann an meiner Seite zu haben.» Sie habe nie gesehen, wie ihr Ex-Partner grob zu Michael gewesen wäre. Was sie sich vielleicht vorwerfen müsse, sei Naivität: «Dass ich diesem Menschen vertraut und ihn geliebt habe.»

Am 11. Oktober 2014 liegt Michael zitternd und durchnässt neben Erbrochenen im Bett. Kurz darauf stirbt er. Stefanies Verteidiger sagt, die Ärzte hätten sie im Irrglauben gelassen, es könnte sich um eine Blutgerinnungsstörung handeln. Sie sei sogar gegen ihren Willen aus dem Spital entlassen worden. «Sie hat Hilfe gesucht, aber keine erhalten. Sie tat ihr Möglichstes, die Ärzte nicht.»

Die Staatsanwältin sieht das anders, sagt, Stefanie sei «Opfer und Täterin zugleich». Immer, wenn es zu neuen Verletzungen gekommen sei, sei sie abwesend und Robert anwesend gewesen. Das hätte ihr auffallen müssen. Die Spitalärzte hätten sehr wohl auf «die Möglichkeit einer Einwirkung durch Dritte» hingewiesen. «Es ist mir bewusst», sagte die Staatsanwältin, «dass sie stark leidet. Dennoch muss sie gerecht bestraft werden. Denn ihre Untätigkeit ist ein ebenso schweres Unrecht wie eine aktive Tat.» Der Antrag lautet auf 14 Monate Freiheitsstrafe bedingt. Der Anwalt des leiblichen Vaters fordert mehrere Zehntausend Franken Schadenersatz und Genugtuung.

Am Mittwoch steht nun der Stiefvater als Hauptbeschuldigter vor Gericht. Für ihn fordert die Staatsanwaltschaft 13 Jahre Freiheitsstrafe.

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