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Das «Badener Tagblatt» blickt in einer dreiteiligen Serie auf die Geschichte des Wettinger Einwohnerrats zurück. Der erste Teil widmet sich dessen Entstehung: von der einstigen Gemeindeversammlung bis hin zum heutigen Rat.
Bis vier Uhr morgens zählten die Stimmenzähler an jenem Sonntag – oder besser in jener Nacht auf Montag – im Wahlbüro die 177 550 Kandidatenstimmen für die ersten Einwohnerräte von Wettingen aus. Das war am 14. November 1965.
Am 21. Januar 1966 fand in Wettingen die allererste Sitzung eines Einwohnerrats im Aargau statt. Lothar Hess (CVP), der von 1962 bis 1993 Gemeindeammann war, erinnert sich an jene erste Einwohnerratsitzung: «Die Stimmung im Ratssaal war sehr gut und die Einwohnerräte hatten sich gebührend vorbereitet.»
Hess erinnert sich aber auch lebhaft daran, wie es vor der Einführung des Einwohnerrats an den Gemeindeversammlungen zu- und herging. Damals musste nämlich noch mindestens die Hälfte der 20- bis 60-jährigen Stimmberechtigten an der Gemeindeversammlung anwesend sein, und das bedeutete im Fall von Wettingen über 2000 Bürger.
Damit dies überhaupt gelang, rückte die Gemeindepolizei aus und räumte die Gaststuben im Dorf. Für die Versammlung war selbst die Doppelturnhalle des Bezirksschulhauses zu klein. So installierte man im Keller eine Gegensprechanlage.
Wer keinen Platz in der Turnhalle hatte, ging in den Keller. «In den Monster-Gemeindeversammlungen der vergangenen Jahre mit gelegentlich über 2300 Teilnehmern ist die echte, lebhafte und fruchtbare Diskussion stark erschwert, weil nur wenige Bürger in diesem aussergewöhnlichen Rahmen sich zu einer Sachfrage äussern wollen oder können.
Damit ist die Gefahr verbunden, dass das Mitspracherecht der Bürger und seine Kontrollfunktion verkümmert», sagte damals der Gemeinderat.
Kam hinzu, dass wenn das Quorum nicht erreicht wurde, die Anwesenden wieder heimgeschickt wurden und die Gemeindeversammlung vertagt werden musste. Das geschah in den zehn Jahren vor der Einführung des Einwohnerrats achtmal, «was für das Wohlwollen gegenüber der Gemeindeversammlung nicht gerade förderlich war», schreibt der «Wettiger Stern» in der Jubiläumsausgabe zum Einwohnerrat.
Doch die Einführung eines Einwohnerrates wurde erst mit der kantonalen Gesetzesänderung von 1963 möglich. Bereits im Dezember 1964 stand die neue Gemeindeordnung, die ein 50-köpfiges Einwohnerratsgremium vorsah.
Damit konnte an jenem Januarabend 1966 die konstituierende Einwohnerratssitzung stattfinden. Geführt wurde sie vom ersten Wettinger Einwohnerratspräsidenten, dem damals 36-jährigen Max Knecht.
Seine Partei, die CVP, war es auch, die den Rat dominierte. Mit 16 Sitzen beanspruchte die CVP, damals noch die konservativ-christlichsoziale Partei, beinahe einen Drittel des gesamten Parlaments. Doch woher kam diese Dominanz in den 60er-Jahren?
Karl Frey (CVP), der von 1974 bis 1993 Gemeindeschreiber in Wettingen war und von 1994 bis 2007 Gemeindeammann, sieht den Grund für die damalige Parteiensituation unter anderem im Zusammenhang mit der ABB, der damaligen BBC: «Das Kader wohnte in Baden, wodurch der Freisinn stark war.
In Wettingen wohnten die Arbeiter, die mit den Werten der CVP sympathisierten.» Dies habe die damalige Stärke, die unter anderem von den alteingesessenen Familien kam, begünstigt.
Wie stolz die Gemeinde auf ihren Einwohnerrat ist, zeigt sich im Geschichtsbuch «Wettingen. Vom Klosterdorf zur Gartenstadt». Darin ist Folgendes zu lesen: «In den Protokollen des Einwohnerrats aus den ersten Jahren ist viel zu spüren vom Bewusstsein über die Bedeutung und über die Pionierrolle des ersten Gemeindeparlaments im Aargau.»
Und weiter: «Die bereits in den 1950er-Jahren spürbare Aufbruchstimmung setzte sich fort im neuen Einwohnerrat, der zusammen mit dem Gemeinderat die zahlreichen Aufgaben der allzu rasch gewachsenen Gemeinde anpackte.»
Mit dem Einwohnerrat wurden die politischen Prozesse effizienter und sachlicher. Schon im ersten Jahr überwies das Parlament die Motion von CVP-Einwohnerrat Bernhard Meier für den Bau eines Schwimmbads, dem späteren «Tägi». 1969 genehmigte der Einwohnerrat den Kredit von 18,4 Millionen Franken für das Sport- und Erholungszentrum Tägerhard.
Ein weiterer Meilenstein setzte die Legislative ein Jahr später mit dem Kredit für das Gluri-Suter-Huus. Die Kulturstätte im Dorfkern gehört heute zu den Wahrzeichen der Gemeinde.
Mit der Einführung des Frauenstimmrechts wurde 1971 der Weg in die Gemeindepolitik für Frauen frei. Wettingen hatte das Frauenstimmrecht mit 2278 Ja- zu 1079 Nein-Stimmen deutlich angenommen. 1973 fanden erstmals Gesamterneuerungswahlen mit Frauenbeteiligung statt.
Fünf schafften den Sprung in den Rathaussaal. «Sie nahmen zwischen den ‹Herren der Schöpfung› Platz und wurden mit Begrüssungsrosen beschenkt», wie im Bericht des «Badener Tagblatts» über die erste Einwohnerratssitzung mit Frauenbeteiligung im Jahr 1974 zu lesen ist. «Der Gemeindeschreiber hat sehr aufmerksam auch gleich die Vasen mitgeliefert.» Der Frauenanteil blieb bis 1985 jedoch bei lediglich zehn Prozent.
Erst im Jahr 1993 erhöhte er sich auf 16 Prozent. Karl Frey war es zwar nicht, der den Parlamentarierinnen die Rosen samt Vase reichte, doch er erinnert sich: «Schon als ich 1974 meine Arbeit als Gemeindeschreiber aufnahm, war die Präsenz der Frauen im Einwohnerrat völlig normal. Sie nahmen rege an den Diskussionen teil und brachten ihre Vorstösse ein.»
Die ehemalige Nationalrätin Doris Stump, die von 1987 bis 1989 für die SP im Einwohnerrat sass, schaffte 1989 als erste Frau den Sprung in den Gemeinderat. Sie lebt nach wie vor in Wettingen und erinnert sich: «Einwohnerrätinnen im Parlament waren zu meiner Zeit schon völlig normal, allerdings wie heute waren sie auch damals im linken Lager stärker vertreten als bei den bürgerlichen Fraktionen.»
Hingegen habe es bei der Wahl in den Gemeinderat sogar aus der eigenen Partei noch kritische Stimmen gegeben – Männer, die fanden, es sei noch zu früh für eine Frau in der Exekutive. Stump bewies das Gegenteil und blieb bis 2005 Gemeinderätin. Im Jahr 2001 besetzte mit Margrit Wahrstätter (EVP) erstmals eine Frau das Einwohnerratspräsidium.
Heute, 50 Jahre nach der Einführung des Einwohnerrats, hat sich die Parteienlandschaft verschoben. Die CVP konnte die Dominanz der Anfänge nicht halten. Anfang der 80er-Jahre hielt sie 19 Sitze, 1997 waren es noch 14. «Ende der 80er-Jahre begann diese starke Dominanz zu bröckeln», erinnert sich Karl Frey. Ungeachtet dessen stellt die CVP seit über 50 Jahren den Gemeindeammann.
Wie in der ganzen Schweiz konnte die SVP auch in Wettingen Wähleranteile und damit Sitze gewinnen. Während FDP, SP und EVP ihre Sitze nahezu unverändert hielten, stieg die Sitzzahl bei der SVP von 2 Sitzen Anfang der 80er-Jahre bis 1997 auf 7.
Im heutigen Einwohnerrat hält die CVP noch 12 Sitze und liegt damit gleichauf mit der SVP, die ebenfalls 12 Sitze hat. Die Fraktionen SP/WettiGrüen und EVP/Forum 5430 bilden die Wettinger Linke mit insgesamt 15 Sitzen. Die Bürgerlichen haben aber mit CVP, SVP, FDP (7 Sitze) und BDP (2 Sitze) nach wie vor die Oberhand im Wettinger Parlament. Die GLP ist mit 2 Sitzen vertreten.
Obwohl die CVP nicht mehr an ihre Stärke aus den Anfängen des Einwohnerrats herankommt, so bestätigen selbst Vertreter der Linken: Die Dominanz der CVP ist im Dorf nach wie vor zu spüren.
So scheint es in Wettingen eine beschlossene Tatsache zu sein, dass die CVP nach über 50 Jahren mit Roland Kuster auch den nächsten Gemeindeammann stellen dürfte, falls Markus Dieth in den Regierungsrat gewählt wird.
50 Jahre Einwohnerrat: Lesen Sie im zweiten Teil das grosse Interview mit dem ersten Einwohnerratspräsidenten Max Knecht.