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Ein Badener Bez-Lehrer musste nach Filmaufnahmen gehen. Fragwürdig, findet der Endinger Sportlehrer Thomas Uhlig und kritisiert den Trend zu immer mehr Einverständniserklärungen, mit denen sich Schulen absichern.
Vor knapp einem Monat enthüllte die «Schweiz am Wochenende», dass sich die Bezirksschule Baden per sofort von einem Sportlehrer getrennt hatte. Grund: Das Vertrauensverhältnis von Schülerinnen und Schülern und seiner Person sei nachhaltig geschädigt, da der betroffene Lehrer im Sportunterricht Kurzsequenzen mit Videokameras zu Beurteilungszwecken aufgenommen hatte. «Das mag bei gewissen Übungen angebracht sein, braucht aber zwingend eine Einverständniserklärung jeder einzelnen Schülerin und jedes einzelnen Schülers sowie zusätzlich ihrer Eltern», begründete Schulleiter Jethro Gieringer die Kündigung. Der entlassene Lehrer hatte die Einwilligung nur pauschal und am Rande der Lektionen eingeholt. «Dies entspricht nicht unseren Richtlinien und internen Prozessen», so der Schulleiter.
Die Entlassung sorgt in Lehrerkreisen für viel Gesprächsstoff und löst auch Kopfschütteln aus. «Seit fast 30 Jahren setzen wir im Sportunterricht, sowohl im Bewegungslernen als auch zu Beurteilungszwecken, Filmaufnahmen ein», sagt Sportlehrer Thomas Uhlig, Verantwortlicher des Fachbereichs Sport an der Bezirksschule Endingen. Früher seien Videokameras zum Einsatz gekommen, seit wenigen Jahren werde mit Tablets und ergänzend mit Smartphones der Schüler gefilmt – vor allem in der Leichtathletik und im Geräteturnen. Uhlig: «So lassen sich erfolgreich Bewegungsanalysen vornehmen. Wir sind überzeugt, die Lernprozesse unserer Schüler dadurch nachhaltig verbessern und unseren Sportunterricht qualitativ besser und spannender gestalten zu können.»
Darüber hinaus seien korrekte und faire Beurteilungen, beispielsweise im Geräteturnen, ohne Video undenkbar. «Eine Einverständniserklärung für die Videoaufnahmen holen wir – anders etwa als für Fotos, die auf der Schulwebsite gezeigt werden – nicht ein. Noch nie wurden uns von Schülern oder Eltern diesbezügliche Bedenken geäussert», betont Uhlig. «Eltern wie Schüler wissen und vertrauen uns, dass wir die Filmaufnahmen nur intern verwenden und nach Gebrauch umgehend löschen.»
Die Institution Schule verfolge in den letzten Jahren generell eine offensive Regulierungs- und Absicherungspolitik, die kritisch hinterfragt werden müsse. «Wenn ich als Klassenlehrer die Eltern meiner neuen Klasse zum ersten Mal begrüsse, muss ich mich schon fast entschuldigen für all die Unterschriften, die ich bei ihnen werde einholen müssen.» Laut Uhlig treibe es in diesem Zusammenhang die Bezirksschule Baden mitunter auf die Spitze. So hätten Eltern einer Badener Bezirksschulklasse vor zwei Jahren vor einem Klassenlager nach drei einzeln zu unterschreibenden Einverständniserklärungen (Einhalten der Lagerregeln, Teilnahme am Ausflug in einen Seilpark, Fahrt auf einem Trotti-Bike) wenige Tage vor Lagerstart auch noch dafür unterschreiben müssen, dass ihr Kind fähig sei, das Lagerhaus zu putzen, ansonsten sie es ihm bis zum Lagerstart noch beibringen würden.
All die Regulierungen würden den Schulalltag zunehmend lähmen und kaum mehr spontane Entscheidungen im Unterricht zulassen, so Uhlig. «Als Vater von zwei schulpflichtigen Kindern muss ich manchmal den Kopf schütteln, wenn ich sehe, was da alles an Papierkram zusammenkommt. Wo bleiben da der gesunde Menschenverstand und das Augenmass?»
Zum jüngsten Fall an der Bezirksschule Baden sagt Uhlig: «Aus meiner Sicht kann es nicht sein, dass der Lehrer nur aufgrund der nicht explizit eingeholten ‹Einverständniserklärung› entlassen worden ist.» Uhlig kann sich nicht vorstellen, dass eine solche Unterlassung dafür ausschlaggebend sein kann, dass «das Vertrauensverhältnis zwischen den Schülerinnen und Schülern und seiner Person nachhaltig geschädigt ist». «Eher vermute ich, dass die Bezirksschule Baden unter diesem Vorwand eine aus anderem Grund missliebige Lehrperson loswerden wollte.»
Mit dieser Kritik konfrontiert, sagt Mirjam Obrist, Geschäftsleiterin der Volksschule Baden: «Zur Kündigung können wir aufgrund des Arbeitnehmer- und Persönlichkeitsschutzes nicht mehr sagen.» Und zur kritisierten Regulierungs- und Absicherungspolitik an der Bezirksschule sagt Obrist: «Bis jetzt sind mir keine solche Beanstandungen zu Ohren gekommen.» Auch die im Herbst durchgeführte Elternbefragung habe keine solche Hinweise zutage befördert. «Richtig ist, dass Eltern der Bezirksschule Baden ihr Einverständnis geben zu aussergewöhnlichen Anlässen in Lagern, beispielsweise rodeln oder im See schwimmen». Zum Thema Regeln sagt sie: «So viele wie nötig, so wenige wie möglich. Grundsätzlich sind Regeln dort zu begrüssen, wo sie eine Entlastung bilden, beispielsweise, damit nicht jedes Jahr immer wieder die gleichen Fragen diskutiert werden müssen.»
Reto Bolliger, Präsident des Aargauischen Vereins für Sport in der Schule (AVSS), hält Videoaufnahmen im Sportunterricht für wichtig. Für das Bewegungslernen sei es von grossem Vorteil, wenn die Jugendlichen eine Aussensicht erhalten, so Bolliger, der an der Schule für Gestaltung in Aarau Sport unterrichtet. «Filmaufnahmen sind ein wichtiges pädagogisches Mittel und dienen auch der Benotung beispielsweise einer Tanzchoreografie, die mehrmals angeschaut werden kann», sagt Bolliger. Lehrer seien verpflichtet, die Bewegungsqualität zu benoten. Und: Bei einem Rekurs seien die Aufnahmen ein Beweismittel, wie eine Note zustande kam. «Ich selber informiere die Schüler nur explizit, wenn das Filmen dem Zweck der Benotung dient. Geht es nur darum, das Bewegungslernen zu unterstützen, reicht es, den Schülern die Wahl zu lassen, auf einer Anlage zu üben, wo gefilmt wird oder auf einer anderen.»
Unabhängig vom jüngsten Fall in Baden sei man, zusammen mit der kantonalen Beauftragten für Öffentlichkeit und Datenschutz daran, Richtlinien zu erarbeiten, um die rechtliche Situation zu klären und festzuhalten.