Baden
Wenn Arzt und Versicherung versagen, beginnt die Suche nach Gott

Die Freikirche «Christ International Church» ist für viele Verzweifelte eine Anlaufstelle. Betroffene erzählen.

Sabina Galbiati
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Henry Hinn, Gastredner im Gottesdienst, betet mit den Kirchenmitgliedern.Michael Muogbo

Henry Hinn, Gastredner im Gottesdienst, betet mit den Kirchenmitgliedern.Michael Muogbo

zvg

Petra* verwirft die Hände. Zweimal habe sie versucht, sich das Leben zu nehmen. Sie schüttelt den Kopf. «Ich habe es damals mit Alkohol und Tabletten versucht, weil ich nicht den Mut hatte, vor den Zug zu springen. Heute bete ich dafür, dass niemand mehr vor den Zug springt.» Dann senkt sie den Blick, will das Thema wechseln.

Heil- und Wundergottesdienst

Freitagabend in der Aula der Kanti Baden. Um 19 Uhr beginnt der Heil- und Wundergottesdienst. «Catch the Fire 2013 – Heilungs- und Wunder-Konferenz» stand auf dem Flyer, mit dem Pastor Osoko öffentlich zum Gottesdienst einlud.

Noch sind die meisten Stühle im Saal leer. An der Seite steht ein improvisiertes Mischpult, dahinter zwei, manchmal fünf Schwarzafrikaner. Die Frauen stehen beim Eingang, heissen die Gläubigen willkommen. Kinder toben durch die Stuhlreihen. Petra und ihr Mann sitzen in der fünften Reihe.

Pastor Osoko gründete die «Christ International Church» im März 2004. «Nach vielen Monaten des Gebets gab mir Gott den Auftrag, in Baden eine Gemeinde zu gründen.» Warum ausgerechnet Baden? «Vielleicht, weil es für Freikirchen ein schwieriger Ort ist», sagt Osoko.

Mehrere Kirchgemeinden seien zuvor schon gescheitert. «Uns gibt es immer noch.» Osoko wertet das als Zeichen. Bis 2007 arbeitete der gebürtige Nigerianer bei der UBS im Bereich Business und Training. «Ich verdiente sehr gut, doch ich entschied mich für die Berufung statt die Karriere», sagt er in einem Englisch mit starkem Akzent.

Ab 2007 widmete er sich voll seiner Kirche, schrieb zwölf Bücher und nahm unzählige CDs mit Predigten auf. «Jetzt verdiene ich zwar viel weniger Geld, aber es macht mich glücklicher, zu sehen, dass Menschen dank uns den Weg zu Gott finden», sagt er. Die rund 120 Mitglieder der «Christ International Church» stammen aus über 23 Nationen. Osokos Frau Silvia ist Schweizerin und übersetzt die Predigten jeweils direkt ins Deutsche.

Die Heimsuchung

In der Aula stimmt der Gospelchor «Jehova is your name» an. Eine Band begleitet ihn. Immer noch betreten Leute den Saal. Die Kinder spielen leise «Schere, Stein, Papier» in den hinteren Reihen. Einige Gläubige halten ihre Arme mit den Handflächen nach aussen in die Höhe.

Petra verwirft die Hände und lacht. Eines Tages, es muss um 1997 gewesen sein, sei sie zu Gott gekommen. Auf dem Heimweg traf sie eine alte Bekannte. «Man erzählte sich Gerüchte, sie sei in einer Sekte und ich dachte nur: ‹Jetzt kommt die bestimmt noch mit Jesus›.» Petra muss ungefähr 35 Jahre alt gewesen sein, die junge Frau aus Turgi hatte zwei Scheidungen hinter sich. Wegen ihrer Lernschwäche stand sie ohne Lehre da. Zog drei Kinder gross.

Sie hätte gerne eine Festanstellung gehabt. «Ich litt unter Migräneanfällen und hatte dauernd Rückenschmerzen.» In der heutigen Arbeitswelt sei jemand wie sie nicht mehr zu gebrauchen. Sie senkt den Blick.

Der Gospelchor stimmt das fünfte Lied an, «Glory, glory Lord». Ein Beamer projiziert den Liedtext an die Leinwand auf der Bühne. Im hinteren Teil des Saals sitzen manchmal vier, manchmal sechs Jugendliche und organisieren die Powerpoint-Präsentation. Sandra* ist eine von ihnen. Sie ist 17 Jahre alt und vor einem Jahr der «Christ International Church» beigetreten. Im letzten August hatte sie ihre Taufe. Sie tauchte in die Limmat ein. Als sie aus dem Wasser kam, habe sie dies mit Jesus getan.

Am Freitagabend in den Gottesdienst

Jetzt sitzt sie im Café und erzählt ihre Geschichte. «Ich wollte früher immer zuschlagen, einfach draufhauen.» Als Sandra klein war, ist ihre Familie in die Schweiz gekommen. Dann zogen sie vier weitere Male um. Die Eltern trennten sich nach Jahren des Streits. Sandra trank mit 15 regelmässig Alkohol und rauchte Zigaretten.

Heute gehe sie jeden Freitagabend und sonntags in den Gottesdienst. Warum ihre Freunde aus der Schule trinken, um es lustig zu haben, und rauchen, um dabei zu sein, kann sie nicht mehr verstehen. Ausgang findet sie langweilig, Sex will sie erst nach der Hochzeit. Das Mädchen wirkt glücklich und sanft.

In der Aula hat Pastor Osoko seine Predigt begonnen. «Lasst uns für die Schweiz beten und dafür, dass wir Heilung finden.» Hin und wieder sagen die Leute Amen. Als er seine Predigt beendet, ist es bereits 21.30 Uhr. Er überlässt das Wort einem Gastredner. Der Gottesdienst an diesem Abend wird noch bis 23 Uhr dauern.

Tage später wird Silvia Osoko im Büro der Kirchgemeinde erklären: «In ärmeren Ländern, wo das Leben schwierig ist, hat jeder seine Religion. Denn er weiss, er hat es nicht in der Hand. Aber in der Schweiz denken die Leute: ‹Ich brauche keinen Gott, ich habe eine Versicherung, es gibt Ärzte›.»

Frieden finden

Deshalb seien es meistens Menschen aus schwierigen Verhältnissen, die zur «Christ international Church» kommen, weil sie merken, dass auch Ärzte und Psychiater nicht perfekt sind und die Versicherung nicht mehr helfen kann. «Bei uns können sie wenigstens Frieden finden. Solche Menschen sind ansprechbar auf Gott, weil auch sie gemerkt haben, dass sie ihr Schicksal nicht in der Hand haben.»

Im Café: Sandra muss lachen. «Ich werde oft gefragt, ob das eine Sekte sei, aber alles, was wir tun und glauben, ist freiwillig.» Aus der katholischen Kirche will sie austreten. «Früher habe ich nie verstanden, was uns der Pfarrer in der Kirche sagen wollte. Alles war so strikt geregelt und der Pfarrer schien nicht das zu leben, was er predigte.» Jeden Morgen, wenn sie im Zug sitzt, lese sie in der Bibel. Wenn sie etwas nicht versteht, fragt sie den Pastor oder jemanden aus der Kirchgemeinde.

Petras Hände liegen ruhig auf dem Tisch. Sie erzählt von ihrem Mann. Vor neun Jahren hat sie ein drittes Mal geheiratet. Sie lernten sich in einer christlichen Buchhandlung kennen. Ihre Augen leuchten, als wäre sie frisch verliebt. «Er ist der Mann, den Gott für mich ausgewählt hat.» Jetzt betet sie dafür, dass sie ihre Lernschwäche besiegen kann. «Meine Migräne hat Gott geheilt. Er hat mir gezeigt, dass Jesus für meine Schmerzen und Sünden am Kreuz gestorben ist. Jesus sei Dank.»

Tage später wird Solomon Osoko das Büro an der Mellingerstrasse betreten und geduldig alle Fragen beantworten. Auch jene nach den Wunderheilungen: «Gott hat Krebs- und Aids-Patienten geheilt. Und doch gibt es Menschen, die er nicht heilt. Warum, weiss nur er, und wenn ich ihn treffe, werde ich ihn fragen, warum», wird er sagen und dabei versöhnlich lachen.

*Namen der Redaktion bekannt.