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Seit 1962 ist das ehemalige Bauerndorf Dättwil ein Stadtteil von Baden. Das eine Dättwil gibt es nicht – hier historischer Dorfkern, dort Reihenhäuser- und Gewerbe-Charme. Lesen Sie hier den ersten Teil der Serie über die zehn Badener Stadtquartiere.
Man hört die Vögel zwitschern an diesem Tag, die Frühlingsblumen spriessen. Wie war das mit dem Autobahnlärm, der in Dättwil offenbar so gut zu hören sein soll? Quartiervereinspräsident Markus Meurer klärt auf: «Heute bläst der Wind aus der richtigen Richtung.» Tatsächlich: Es bläst heute ein leichter Föhn und somit den Autobahnlärm weg von Dättwil. «Doch auch ohne Föhn hören wir den Autobahnlärm fast nicht, da man sich schnell an diesen gewöhnt.»
Wie kommt es, dass ein Deutscher Präsident des Quartiervereins ist? «Ich zog 2001 mit meiner Familie hierher. Als ich für das Amt angefragt wurde, war für mich schnell klar, dass ich zusage. Das ist die beste Möglichkeit, sich zu integrieren», sagt Meurer, der in Baden für General Electric arbeitet. Ihm ist es wichtig, dass im Dorf etwas geht. «Es gibt immer mehr Menschen, die nur hier schlafen, auswärts arbeiten und kein grosses Interesse am Zusammenleben haben.»
Umso wichtiger sei es, dass Familien und Alteingesessene das Dorfleben pflegen. «Wir organisieren jedes Jahr das Sommerfest mit dem ‹Schnellscht Dättwiler› oder helfen beim Räbeliechtliumzug oder beim Samichlaus mit.» Meurer, der in einem Vorort von Köln aufgewachsen ist («ganz ähnlich wie hier»), schätzt an Dättwil das Dörfliche und Familienfreundliche, «und in nur zehn Minuten ist man in der Stadt».
Ja, dörflich präsentiert sich der alte Dorfkern in der Tat und mit ihm auch die Protagonisten, die wir antreffen – und das im positiven Sinn. Da wäre zum einen Thomas Obrist. Der 58-Jährige führte bis Ende 2015 zusammen mit seiner Frau einen Landwirtschaftsbetrieb mit rund vier Hektaren Land. Heute geht es Obrist etwas ruhiger an und betreibt nur noch einen kleinen Hofladen an der Dorfstrasse. Obrist kann als Ur-Dättwiler bezeichnet werden, verbrachte er doch sein ganzes Leben hier. «Das Haus unserer Familie steht seit 1860 in Dättwil», sagt Obrist nicht ohne Stolz. Es gefalle ihm auch heute noch hier, auch wenn der Wandel vom 300-Seelen-Dorf zum 3000-Einwohner-Quartier natürlich nicht ohne sichtbare Veränderungen passiert sei. «Ich finde aber auch, dass sich das Dorf gerade hier im Kern seinen ursprünglichen Charakter hat bewahren können.»
Als «Charakter» darf auch Martin Kuhn bezeichnet werden, der in der alten Dättwiler Post seit knapp fünf Jahren «Martins Whisky Post» betreibt. Hier verkauft Kuhn ausschliesslich schottische Whiskys. «Mein Angebot umfasst rund 300 verschiedene Abfüllungen, darunter viele Trouvaillen», sagt Kuhn. Der heute 73-Jährige führte viel Jahre den Quartierladen Chrättli auf der Badener Allmend. Nachdem er sich entschlossen hatte, den Quartierladen aufzugeben, war für ihn klar, dass er aus seinem Hobby – Whisky und Schottland – ein kleines Geschäft machen wollte.
«Wegen der ganzen Bauerei wollte ich etwas ausserhalb von Baden. Dabei bin auf die alte Post in Dättwil gestossen», so Kuhn. «Ich habe Kunden, die aus der ganzen Schweiz anreisen. Dass mein Laden nur gerade zwei Minuten von der Autobahn liegt, ist natürlich ideal.» Doch auch mit öV sei Dättwil sehr gut erschlossen. Und Kuhn ist überzeugt, dass er mit seinem kleinen, stilvoll eingerichteten Laden eine Bereicherung für das Dorf ist. «Ich habe es sehr gut mit meinen Nachbarn. Die Dättwiler haben Freude, dass ich hier bin.» Und Kuhn geht noch weiter. So hat er mit dem Wirt des Restaurants Pinte bereits zehnmal zum «Whisky & Dine» eingeladen.
Dass Kuhn sich ausgerechnet die «Pinte» für die Kooperation ausgesucht hat, ist nicht zufällig. Das traditionelle Gastlokal gibt es seit 1866. Die Ortsbürger sicherten im Jahr 1988 der Familie Mäder-Reinle das Baurecht auf 100 Jahre zu. Diese steckte drei Millionen Franken in den Umbau. Ab 1990 brachte Spitzenkoch Bernhard Bühlmann die Dorfbeiz zum Blühen und holte in den besten Jahren 17 Gault-Millau-Punkte. Anfang 2007 verliess Bühlmann die «Pinte». So stieg Karin Mueller-Mäder von der Besitzerfamilie selber ins Gastro-Geschäft ein. 2013 verkaufte sie ihre AG an Nina und Roland Bhend sowie an Pächter Patrick Troxler. Dieser knüpfte nahtlos an die Tradition an und bekocht heute zusammen mit seinem Team auf 13-Gault-Millau-Punkte-Niveau.
«Gleichzeitig war es mir immer wichtig, den Charme der 150-jährigen Dorfbeiz zu erhalten», sagt Troxler. «Auch wenn wir hier in Dättwil sind, so bin ich mir sicher: Auch die Badener sind stolz auf die ‹Pinte›.» Umgekehrt könne er festhalten, «dass wir uns hier in Dättwil sehr, sehr wohl fühlen». Ja, er würde den Standort gar einem Standort in der Badener Innenstadt vorziehen. «Es gibt in Dättwil sehr viele Arbeitsplätze. Ein Grossteil unserer Mittagsgäste arbeitet hier in Dättwil im Industrie- und Dienstleistungsquartier.» Tatsächlich: Mit rund 7000 Arbeitsplätzen verteilt auf 500 Firmen gehen in Dättwil mehr als doppelt so viele Menschen einer Arbeit nach, als hier leben.
Unser Weg führt uns vorbei an der Sommerhaldenstrasse – einer der typischen Reihenhaussiedlungen in Dättwil. Wir überqueren den Bahnübergang der ehemaligen Nationalbahn. Seit 2004 verkehren auf dieser Strecke nur noch ab und zu Güterzüge. Gleich gegenüber dem alten Bahnhof befindet sich das ehemalige Restaurant Täfern. Nach 137 Jahren schloss das Wirtepaar Rosmarie und Markus Friedli Ende 2017 den Betrieb. Dereinst ist an Stelle des Restaurants die Überbauung «Täfernhof 3» geplant. Blickt man von der «Täfern» die Mellingerstrasse hinunter Richtung Baden, wähnt man sich eher auf einer amerikanischen Ausfallstrasse als auf einer Aargauer Kantonsstrasse.
Weiter gehts zu Fuss ins Gewerbe- und Industriequartier Täfern. Wer ab hier weiterfährt, tut dies in der Regel nur, weil er hier arbeitet, hier Kunde ist, für einen guten Zweck in der «Tankbar» tanken oder sein Auto in der Waschstrasse wieder aufpolieren will. Ganz am Ende der Quartierstrasse findet sich schliesslich das kleine, aber überaus schmucke Fussballstadion Esp, wo der FC Baden seit 1988 seine Heimspiele austrägt.
Zurück gehts über die Täfern- und Mellingerstrasse ins Dorf. Nächster Stopp ist die Pilgerstrasse, genauer die Überbauung Rüteli, deren erster Teil Mitte der 1970er-Jahre gebaut wurde. Hubert Kirrmann und sein Frau Verena sind hier 1979 eingezogen. Für den Forschungsingenieur hatte das ganz praktische Gründe. «So konnte ich immer zu Fuss oder mit dem Velo ins BBC-Forschungszentrum fahren.» Sie seien damals mit offenen Armen empfangen worden. «Es gab sogar einen Apéro mit dem damaligen Stadtammann Victor Rickenbach», erinnert sich Verena Kirrmann. «Als wir vor gut 40 Jahren hierherzogen, war Dättwil noch ein richtiges Bauerndorf. Das hat sich in den letzten Jahren schon sehr verändert.» Und doch sei man eine dörfliche Gemeinschaft geblieben.
Verena Kirrmann macht bei den Landfrauen mit, die unter anderem das wöchentliche Frauenturnen organisieren, und ihr Mann gehört dem gemischten Chor an. «Es gibt noch drei Mitglieder aus der Anfangszeit», sagt Hubert Kirrmann. Dass Dättwil sich von einem Bauerndorf hin zu einem modernen Stadtquartier entwickelt hat, findet Kirrmann aber nicht nur schlecht. «Durch die vielen Start-ups gibt es wieder einen Entwicklungsschub und letztlich auch wieder Leben.» Von aussen mag die Rüteli-Überbauung mit ihren zwölf Blöcken und insgesamt über 100 Wohnungen anonym wirken, doch das sei sie keinesfalls, betonen die Kirrmanns. «Dank der zentralen Allee treffen sich alle Bewohner automatisch und man lernt sich kennen.»
Die Menschen von Dättwil:
Ein Wegzug steht für die beiden nicht zur Debatte. «Wir sind in gut zehn Minuten in Baden und in einer Dreiviertelstunde in Zürich. Und schauen Sie nur zum Fenster hinaus, wie wunderschön nahe wir am Wald und in der Natur wohnen.» Gleichzeitig ist es gerade dieses Thema, das dem Ehepaar Kopfzerbrechen bereitet. Denn: Der Galgenbuck soll dereinst überbaut und von rund 1500 Menschen bewohnt werden. «Das ist nicht nur für uns eine wichtige Erholungszone, sondern auch für viele Tiere.» Schon heute würden sie im Wald deutlich weniger Tiere als früher sichten.
Eine gute Aussicht werden künftig auch Spitalpatienten im neuen Kantonsspital Baden (KSB) haben. Für 450 Millionen Franken entsteht derzeit ein Neubau, der ein schöner Ort zu werden verspricht. Die 400 Betten – unwesentlich mehr als jetzt – werden durch die Platzierung des Neubaus und dessen Lichthöfe Sicht ins Grüne erhalten. Sobald der Neubau Anfang 2022 bezogen ist, wird der alte, prägnante Bau aus dem Jahr 1978 abgerissen.
Der Rundgang führt uns über die Überbauung Husmatt, deren auffälligstes Merkmal seit 2005 der Rundturm mit einem Radius von knapp 11 Metern und rund 22 Meter Höhe ist. Ein kurzer Abstecher zum «Bareggcenter» muss auch drinliegen, verknüpft der hier Schreibende mit dem Sportcenter doch einige Erinnerungen. So etwa an die Daviscup-Begegnung Schweiz gegen Neuseeland im September 1991, welche die Schweiz mit 5:0 für sich entschied und somit den Aufstieg in die Weltgruppe realisierte. Nach der Partie gab es sogar ein Sportler-Autogramm vom damaligen Tennis-Star Jakob Hlasek.
Gleich hinter dem «Bareggcenter» teilt die A1 das Dorf quasi in zwei (ungleiche) Hälften. Immerhin kamen die Dättwiler 2003 anlässlich der Eröffnung der dritten Baregg-Tunnelröhre in den Genuss eines rauschenden Dorffestes. Ennet der Autobahn liegt das heutige ABB-Forschungszentrum, das 1967 eröffnet wurde. Der Weltkonzern Brown, Boveri & Cie. entschied sich damals, ein Forschungszentrum zu gründen. Es war die Hochblüte der BBC.
Im selben Jahr hatte der Stromkonzern die Maschinenfabrik Oerlikon übernommen und damit seine Vormachtstellung in der Strombranche ausgebaut. Heute arbeiten hier 220 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus über 40 Nationen in über 50 Labors. Vielen bleibt das Forschungszentrum wegen des runden Brunnens in Erinnerung, der sich an kalten Wintertagen in ein regelrechtes Kunstwerk verwandelt. Oberhalb des Forschungszentrums erstreckt sich das Quartier Segelhof – quasi am Fusse der Baldegg.
Die ersten Siedlungsspuren in Dättwil stammen aus der Bronzezeit. In der Römerzeit führte die wichtige Handelsstrasse vom Legionslager Vindonissa via Dättwil und weiter über die heutige Herzoghütte ins Limmattal nach Turicum (Zürich). Der Strassenverlauf ist mit der Hochstrasse im Dättwiler Dorfkern erhalten, die Täfern (lat. taberna) zeugt bis heute von dieser Ära. Im 9. Jahrhundert rodeten die Alemannen hier Wald und liessen sich nieder. Bald entstanden vier Höfe, die bis ins 18. Jahrhundert eine Streusiedlung bildeten. Die römische Handelsroute wurde im Mittelalter zur «Pilgerstrasse».
1351 besiegten die Zürcher in der Schlacht bei Dättwil die Habsburger Truppen, bevor sie die Badener Bäder niederbrannten. Auf dem Galgenbuck stand der Galgen der katholischen Grafschaft Baden, seit uralten Zeiten war hier Gericht gehalten worden. Der Zuzug von reformierten Familien aus Riniken (Obrist, Renold) um 1740 liess das Bauerndorf allmählich wachsen. In der Helvetik wurde 1798 gegen den Widerstand der Einwohner die «Munizipalität Dättwyl» geschaffen – aus den verstreut liegenden Höfen Dättwil, Hochstrass, Hofstetten, Segelhof, Münzlishausen, Rütihof und Muntwil. Die Gemeinde Dättwil mit ihren 600 Einwohnern wurde 1962 mit der Stadt Baden verschmolzen. Dann ging es schnell: Der Bau der Autobahn, des Kantonsspitals, des BBC-Forschungszentrums im Segelhof und der Siedlung Rüteli machten Dättwil ab 1970 endgültig zum boomenden Badener Stadtquartier. (AF.)
Nach fünf Stunden Fussmarsch durch Dättwil kann festgehalten werden: Das eine «Dättwil» gibt es nicht. Vielmehr setzt sich das heutige Stadtquartier aus vielen spannenden Puzzleteilen und Gegensätzen zusammen. Tradition vermischt sich hier mit Modernem, Wohnquartiere mit Gewerbearealen. Und sollte der Föhn einmal länger ausbleiben, dann freut das wenigstens die Bewohner im Segelhof – der Autobahnlärm wird dann nicht zu ihnen hinaufgeblasen.