Sie haben eine tragende Funktion – und doch beachten wir sie nicht, wenn wir mit hohem Tempo über sie rauschen: Autobahnbrücken. Die AZ war mit dem Inspektor des Bundesamts für Strassen unterwegs bei Baden.
Der Mann, der dafür sorgt, dass wir Täler und Flüsse sicher überqueren können, sagt: «Was wir machen, ist im Prinzip learning by doing, plus Richtlinien und Normen.»
Thomas Zwicky, 54, Bundesamt für Strassen Astra, Filiale Zofingen, Fachbereich Erhaltungsplanung, Leiter Zustandserfassung Kunstbauten, sitzt im grauen Seat Leon und fährt auf der Autobahn A1 Richtung Baden. Kurz vor dem Bareggtunnel stellt er den Blinker, verlässt die Fahrbahn, bremst ab. «Ausgenommen Werkverkehr» steht auf der Verbotstafel vor dem breiten Tor. Zwicky drückt auf einen schwarzen Knopf, der an der Sonnenblende des Beifahrers festgeklemmt ist. Das Tor gleitet langsam zur Seite. Zwicky wartet ein paar Sekunden, bis der Weg frei ist, passiert den Durchgang, parkiert auf einem geteerten Platz. Er steigt aus. Büsche und Beton.
Die Brücke mit dem Namen Dättwilertal Nord, Abschnittsgruppe 8_2, Baujahr 1969, saniert 2001, ist eine von 3000 Kunstbauten in Zwickys Portfolio. Sie füllen in seinem Büro zwanzig Ordner. Einen davon nimmt Zwicky jetzt aus dem Kofferraum, setzt seinen Fuss auf die Stossstange und den Ordner auf seinem Knie ab, öffnet ihn, blättert: «Damit bei 3000 Bauten nichts untergeht, müssen wir das absolut systematisch machen.»
Der Ingenieur ist zuständig für das Gebiet der Astra-Filiale 3, das vom Baselbiet bis in die Innerschweiz reicht. Mittendrin: der Aargau. Seit zehn Jahren plant und überwacht Thomas Zwicky die Inspektionen bei Kunstbauten. Der Begriff, sagt er, «kommt nicht von Kunst, ist aber eine.» Er verhehlt nicht, selber grossen Respekt zu haben vor den Planern und den Erbauern der Viadukte, die er jetzt im Auftrag des Bundes im Auge behält.
Alle fünf Jahre wird jede Brücke einer Hauptinspektion unterzogen. Und jedes Jahr einer kurzen Sichtkontrolle. Wo gerade gebaut wird, wird ausgesetzt. Pro Jahr ergibt das für die sechs Inspektoren, die für Zwicky unterwegs sind, rund 500 Einsätze. Eine Überprüfung kann bei grösseren Bauten bis zu einer Woche dauern. «Dättwilertal Nord» und ihre zwei Schwesterbrücken daneben sind im Jahr 2019 mit der Hauptkontrolle an der Reihe. Zwicky nimmt einen Schlüsselbund aus der signalorangen Arbeitsjacke. Mit einem Passepartout gelangt er entlang der Autobahn überall ins Innerste.
In einer Hohlkastenbrücke wie dieser kann die gesamte Konstruktion abgelaufen werden. Oder eher: abgekrochen. Der Durchstieg ist nicht viel grösser als der Durchmesser eines Schachtdeckels. Ein kühler Luftzug weht, über den Köpfen tönt es alle paar Sekunden laut: Ba-dumm. Ba-dumm. Ba-dumm. Auto für Auto. Wo die Brücke endet, befindet sich der Fahrbahnübergang. Eine heikle Stelle. Andere Stellen, auf die der Inspektor besonders achten muss: Widerlager, Abdichtungen, Risse.
Überhaupt Risse. «Sie sind eine Wissenschaft für sich», sagt Zwicky. Im vergangenen Jahr organisierte er für seine Kontrolleure eine Weiterbildung zur Beurteilung von Rissen. Ein Kollege des Zürcher Baudepartements, der sich auf das Thema spezialisiert hat, hielt einen halbtägigen Workshop. Zwicky hält die ausgedruckte Powerpoint-Präsentation in der Hand. «Da habe sogar ich noch etwas gelernt.» Biegerisse, Trennrisse, Haarrisse – Netzrisse, Schwindrisse, Schubrisse. «Wir müssen alles sehen», sagt Zwicky, «und zwar rechtzeitig».
Im November folgt die nächste Weiterbildung, dann geht es um einheitliche Dokumentation festgestellter Schäden. Zwar sind alle eingesetzten Inspektoren ausgewiesene Fachleute, doch kein Lebenslauf ist gleich wie der andere. Eine offizielle Ausbildung für Brückeninspektoren gibt es nicht. Der Schweizerische Ingenieur- und Architektenverein SIA wollte lange Zeit eine lancieren – doch es gelang bislang nicht. «Darum machen wir solche Workshops und besuchen Fachweiterbildungen.» Es gebe viele Theorien und Studien zu lesen, aber einen richtig guten Inspektor mache die Erfahrung aus, ist sich Zwicky sicher: «Man braucht ein Gefühl dafür.»
Auf einem iPad sind für den Kontrolleur alle Daten zu jedem Bauwerk verfügbar. Auch den angetroffenen Zustand kann er direkt digital erfassen. Es gibt fünf Zustände: 1, gut. 2, annehmbar. 3, schadhaft. 4, schlecht. 5, alarmierend. Ab dem Zustand 3 für das Gesamtbauwerk braucht es Massnahmen. Möglich sind auch Einzelmassnahmen – alles, was weniger als 250 000 Franken kostet, kann das Astra unbürokratisch schnell in Auftrag geben. «Damit können wir sehr vieles abfangen, was später viel teuer würde», erklärt Zwicky.
Eine gewisse Gutmütigkeit hätten Brücken schon. «Aber man darf es natürlich nicht übertreiben.» Ohne es aussprechen zu wollen, zeigt Zwicky damit nach Italien, nach Genua, wo vor drei Wochen das Viadotto Polcevera, eine vierspurige Autobahnbrücke, teilweise einstürzte. 43 Menschen kamen ums Leben. Obwohl er nicht verstecken kann, dass er nicht völlig überrascht war, sagt Zwicky: «Wir sind alle sehr erschrocken.» Schäden in diesem Ausmass habe er noch nie zuvor gesehen. «Diese Katastrophe hat uns gezeigt, wie wichtig unsere Arbeit ist. Eigentlich wissen wir das ja, aber wenn man es so brutal vor Augen geführt bekommt, ist es ein anderes Gefühl.»
Im Schweizer Nationalstrassennetz wäre ein ähnlicher Einsturz kaum möglich. Zu dicht seien die Kontrollintervalle, zudem würden auch der Unterhaltsdienst und sogar Anwohner regelmässig melden, wenn sie etwas auch nur ansatzweise Besorgniserregendes feststellten. Kommt hinzu: Die Brücke in Genua ist eine Schrägseilbrücke. In Zwickys Gebiet gibt es keine einzige Seilbrücke. «Und ich bin nicht unglücklich darüber, denn diese sind sehr heikel.»
Zweieinhalb Kilometer vom Baregg entfernt spannt sich bei Birmenstorf die Reussbrücke, Baujahr 1966, über den namensgebenden Fluss. Sie ist ein Beispiel dafür, wie sich auch die Arbeit der Inspekteure verändert hat. Eine mit Seilbahntechnik betriebene, sogenannte Befahranlage ermöglicht es, die 300 Meter lange Brücke von unten Zentimeter für Zentimeter zu begutachten. Als sie 1992 installiert wurde, wurde sie noch von einem alten VW-Käfer-Motor angetrieben.
Ferdinand Moor, Sicherheitsbeauftragter Strecke der Nationalstrassen Nordwestschweiz, setzt den Wagen in Gang. Er ist einer der wenigen, die wissen, wie man das Gefährt steuert. «Ging in der Mitte das Benzin aus, musste man früher auf dem Brückenträger ohne Sicherung zurücklaufen», erzählt Moor. 50 Meter über der Reuss, zwischen den Holzlatten am Boden schimmert blau der Fluss. 2017 wurde die erneuerte Installation von der Suva abgenommen. Ginge jetzt etwas schief, könnte der Wagen von der anderen Seite zu Hilfe kommen. Learning by doing, plus Richtlinien und Normen.