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Matthias Brücker vom Zürcher Behindertentheater Hora weiss es: Der Bergdietiker ist seit kurzem mit seiner Ensemblekollegin liiert. Sex interessiert ihn aber nicht, sagt er.
Matthias Brücker ist ein eifersüchtiger Mensch. «Typisch Skorpion halt», sagt seine Mutter Bea. «Die müssen immer ihren Stachel ausfahren.» Der 25-Jährige lacht und jauchzt auf: «Ja, so bin ich!» Wenn sich etwa andere Männer um seine Freundin Tiziana bemühen, sieht Matthias rot. Gerade erst musste er so einen zurechtweisen, weil er ihr seines Erachtens zu nahe kam, erzählt er. «Aber sie kann sich doch selber wehren, wenn es sie stört. Das haben wir doch besprochen», sagt sein Vater und schüttelt den Kopf.
Die Eifersucht bekommt auch Matthias’ Schwester zu spüren. Seit Selina regelmässig ihren Freund zu Besuch im Elternhaus in Bergdietikon hat, äfft ihr Bruder sie gerne mal nach oder zeigt sich irritiert ob des Austauschs von Zärtlichkeiten. «‹Nicht schon wieder küssen!›, sagt er dann», so die 20-Jährige. «Dabei macht er das mit Tiziana ja auch.»
«Plötzlich hat es Peng gemacht»
Matthias Brücker und Tiziana Pagliaro – sie sind das neue Traumpaar im Theater Hora. Die beiden haben Trisomie 21, auch Down-Syndrom genannt, und sind Teil des Ensembles des erfolgreichen Zürcher Behindertentheaters. Für Matthias war es Liebe auf den ersten Blick, als er Tiziana 2009 zum ersten Mal sah. «Plötzlich hat es Peng gemacht», erzählt er, auch wenn er noch vier Jahre warten sollte, bis aus dem Peng eine Beziehung wurde.
Matthias’ Eltern unterstützen die Verbindung. «Wieso sollen behinderte Menschen die partnerschaftliche Liebe nicht auch erleben dürfen?», fragt Vater Peter Brücker. Ja, dafür gibt es eigentlich keinen Grund. Auch die Bundesverfassung sieht keinen: Das Recht auf Sexualität untersteht dem Grundrecht der persönlichen Freiheit, das für Behinderte wie Nichtbehinderte gilt.
Doch das theoretisch zugestandene Recht prallt in der Praxis allzu schnell auf eine Reihe von Bedenken – und nicht zuletzt auch auf Vorurteile. Die letzte Frage lautet stets: Sind denn geistig behinderte Menschen überhaupt zu so viel Selbstbestimmung fähig, dass sie in einer Beziehung nicht in Missbrauchssituationen geraten – emotionale wie sexuelle?
«Dora»: ein zu heisses Eisen
Wie unerhört die Vorstellung von gelebter Sexualität und geistiger Behinderung immer noch zu sein scheint, illustriert auch die Produktionsgeschichte des Films «Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern», der schon vor seinem Kinostart am 19. Februar für Furore sorgt. Der Spielfilm, der an den Solothurner Filmtagen Premiere feierte, hat gute Chancen, im März den Schweizer Filmpreis zu gewinnen. Doch der Weg dahin war kein einfacher: Das Drehbuch war den Schweizer Förderinstitutionen ein zu heisses Eisen. Die Regisseurin Stina Werenfels musste deshalb nach Deutschland gehen, um den Film überhaupt realisieren zu können.
Er ist auch keine leichte Kost: Schonungslos zeigt er die gewaltige, nach langem Dämmerzustand plötzlich entfesselte sexuelle Energie der geistig behinderten Dora und wirft dabei Fragen zu heiklen Themen wie Missbrauch, Kinderwunsch und medizinische Bevormundung auf. Abschliessende Antworten masst sich der Film nicht an — und hält gerade dadurch vor allem uns Nichtbehinderten einen Spiegel vor, indem unsere eigene Befangenheit im Umgang mit Sexualität sichtbar wird.
Mit solch extremen Situationen wie Doras fiktive Eltern sind die realen Brückers nicht konfrontiert. Doch auch sie müssen in die Sexualität ihres Sohnes involviert sein, schon nur in ihrer Funktion als Beistände. Das ist nicht einfach, wie Vater Peter erklärt: «Die Sexualität ist schon bei uns ‹Normalen› ein Tabu – kommt eine geistige Behinderung dazu, wird es noch einmal ungleich komplizierter.»
Ist es ein Problem mit einem behinderten Kind, dass man durch die nötigen Gespräche mit ihm auch mit der eigenen Verkrampftheit in Sachen Sex konfrontiert wird? Bea Brücker winkt ab. Verklemmt sei die Familie nicht. Auch mit Matthias versuche man, einen möglichst offenen Umgang zu finden.
Sex nein, Liebe ja
Doch Matthias spricht nicht gerne über das Körperliche, das wird im gemeinsamen Gespräch schnell ersichtlich: «Ich sage nichts zu den Details. Das ist Privatsache, das geht niemanden etwas an», stellt Matthias gleich zu Beginn klar. Auch zeigt er sich irritiert darüber, dass immer nur die «Normalen» mit ihm über Sex sprechen wollen. Mit Gianni Blumer etwa, seinem Freund aus dem Hora-Ensemble, sei das noch nie ein Thema gewesen. Von sich selbst sagt Matthias: «Sex interessiert mich überhaupt nicht.» Diese Aussage sorgt dann aber doch für Verwunderung in der Familie. «Das ist jetzt ganz neu für mich», sagt die Mutter und lacht. Auch seine Schwester erinnert ihn: «Vor Tiziana hast du doch fast jeder Frau nachgeschaut.»
Doch Matthias beharrt darauf: «Liebe ist wichtiger als Sex», sagt er immer wieder, bis klar wird: Vielleicht reden wir aneinander vorbei. Die Schwester merkt es als Erste: «Mein Bruder definiert Sex anders als wir. Liebe auszutauschen erachtet er nicht zwingend als körperliche Angelegenheit», erklärt sie. Denn «Kuscheln» mit Tiziana, das tut Matthias gerne: Fühlte er sich gerade noch in die Ecke gedrängt ob all der indiskreten Fragen, hellt sich seine Miene sofort auf, wenn er davon erzählt, dass er nun auf Theaterreisen im selben Zimmer schlafen darf wie Tiziana. «Die Frage ist nur: Wo hört ‹Kuscheln› auf und fängt ‹Sex› an?», gibt der Vater zu bedenken. Matthias lacht sich dabei ins Fäustchen. «Ich säge nüt!», sagt er. Ausser: «Kuscheln gehört zur Liebe.»
Zusammenziehen kann warten
Und diese Liebe, sie muss zumindest bei Matthias gross sein. «Tiziana ist die Liebe meines Lebens», sagt er. «Wir wollen für immer zusammenbleiben.» Zusammen zu wohnen, kommt zurzeit aber noch nicht infrage. Weil sie erst seit Mai ein Paar sind, ist es der 28-jährigen Tiziana dafür noch zu früh. Matthias, der bei seinen Eltern lebt, will darauf Rücksicht nehmen. Doch später, da will er schon einmal näher bei ihr sein, zum Beispiel im Wohnheim der Stiftung Palme in Pfäffikon, wo seine Freundin seit acht Jahren wohnt. «Aber erst, wenn ich älter bin», sagt er noch einmal. «Also mit 28.»
Die Aussicht, Matthias in drei Jahren ziehen zu lassen, macht der Familie keine Angst. Mit der richtigen Begleitung könne ihr Sohn sehr selbstständig sein. Selbstständig genug, um selbst einmal Kinder aufziehen zu können, sollte er das wollen? Für die Eltern ist schon die Frage, ob Männer mit Down-Syndrom überhaupt Kinder bekommen können, nicht ganz geklärt. Lange galten sie als unfruchtbar. Neuere Studien zeigen: Sie sind es nicht. Ihre Spermien sind zeugungsfähig, wenn auch deutlich verlangsamt. Ohnehin ist vorgesorgt: Wie viele Frauen in ihrem Alter verhütet Tiziana.
Zudem kann auch bei Matthias keine Rede von einem Kinderwunsch sein. «Nein danke!», heult er auf, als das Gespräch auf die Fortpflanzung kommt. «Ich will keine Kinder. Nein danke.» Er weiss selbst, dass eine Vaterschaft seine Fähigkeiten wohl übersteigen würde. «Ich habe Schwierigkeiten, mit der Zeit und mit dem Geld umzugehen», sagt er. «Und auf ein Kind muss man schliesslich immer aufpassen.»